II, Theaterstücke 23, Der Schleier der Pierrette, Seite 327

23. Der Schleiender-Pierrette
Dresener Nachrichten
5 Jun 1
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Kunst und Wissenschaft.
Gastspiel des Moskauer Kammerthealers.
„Der Schleier der Pierrette.“
Die auch in der Dresdner Oper früher oft gespielte Pan¬
tomime „Der Schleier der Pierrette“ von Arthur
Schnitzler, deren Musik E. Dohnanyi geschaffen hat, wird
von Tairoffs Moskauer Kammertheater in einer anderen
Form gezeigt, als wir sie gewohnt waren. Der Pierrot, der
ein Sprößling der italienischen Stegreifkomödie ist, nahm in
Frankreich unter dem Namen Gilles eine typische Er¬
scheinungsform an, wie sie auf Watteaus Bildern uns über¬
liefert ist: ganz weiß gekleidet, auch das Gesicht weiß gefärbt,
in weiten Gewändern schlotternd, ein Melancholiker im
ewigen Gram des betrogenen Liebenden, mondscheinhaft ge¬
spenstig, eine tragische Maske des Leidens am Leben, wie
ihm Albert Girand in seinen füßtraurigen Versen besang.
Sein Gegenspieler Harlekin vertrat die freche Lustigkeit und
die bunte Lebenslust. Pierrette schwankt zwischen beiden
hin und her, auch sie eine typisierte Figur in weißem Kostüm.
Auf Grund dieser französischen Ueberlieferung, die Debureau,
der Fürst der Pantomime, ausgebildet hatte, übernahm man
die lebensferne weiße Farbe für die ganze Aufmachung auch
des „Schleiers der Pierrette“ und schob so die krasse Farce
der Handlung ins Unwirkliche und Geisterhafte. Die tradi¬
tionelle Ballettkleidung wirkte mit darauf ein. Bei den Russen,
die bekanntlich das alte Ballett zur höchsten Vollkommenheit
entwickelt haben, überrascht zunächst die Farbigkeit des Bildes.
Tairoff hat die Starrheit der Tradition durchbrochen und die
Pantomime wieder dem Leben genähert. Das Ballfest im
Elternhause der Pierrette blüht in blumigen Gewändern und
farbigen Fracks, in rosiger Anmut leuchtender Mädchen¬
gesichter und bediermeierischer Eleganz geschniegelter Tanz¬
jünglinge. Es ist ein Bild vornehmer Geselligkeit in ge¬
messenen Reigentänzen und Contres, auf getreppten Tanz¬
flächen übereinander, ein Wogen der Schönheit der Bewegung
und der Farben auf schwarzem Untergrund. In dieses
schmeichlerische Bild der Freude tritt Harlekin in schwarzem,
knapp anliegenden Kleide, mit dämonischem, teufelhaften Ge¬
sicht, ein reizbarer Wüterich, jehe. Gewalttat fähig. Ihm ist
der satanische Gedanke, die treulose Pierrette zur Umarmung
des von ihr vergisteten Pierrots zu zwingen, ins Gesicht ge¬
schrieben. Pierrot selbst im langen grauen Rock, ist nicht mehr
die tragikomische Schaubudengestalt, sondern ein melan¬
cholischer Jüngling im Liebesgram. Auch Pierrette ist keine!
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Balletteuse, sie ist die bleiche Braut im weißen, gebauschten
Tanzrock, innerlich hin und her geworfen zwischen Furcht vor
Harlekin und totbereiter Liebe zu Pierrot. Wie Tairoff die
Pantomime zum stummen Schauspiel zurückverwandelt hat.
so seine Künstler den Tanz zum Seelenausbruck. Sie haben
die ganze Kultur russischer Tanzkunst in sich, aber sie stellen sie
in den Dienst dramatischer Gebärdensprache. Die Geste fließt
aus der Musik, die Musik wird zum Dialog der Glieder, der
Mienen und Augen. Wundervoll, wie alle groteske Ueber¬
treibung des Ausdrucks vermieden ist, wie gerundet und
weich verfließend alles ineinanderläuft, wie „natürlich“ alles
erscheint in dieser so widernatürlichen Form der Pantomime.
Welche Beherrschung des Körpers beweist Alexander
Rumneff als Pierrot, der in der Operette ein Hampel¬
mann war, in der Pantomime ein Sprecher mit dem Körper
ist, als toter Pierrot das Gesetz der Schwere mit starren
Gliedern veranschaulichend. Dämonie waltet in den wilden
Gesten und Sprüngen Boris Ferdinandoffs, der den
schwarzen Harlekin mephistophelisch verkörpert. Pierrette ist
Alice Koonen gestern eine an die Duse erinnernde
Schauspelerin der müden Klage, heute eine Tänzerin von be¬
rauschender Biegsamkeit, in allen technischen Mitteln geschult,
doch zugleich Ausdruckskünstlerin, bleiche, augenfunkelnde,
in schrille Wahnsinnsekstase emporwirbelnde Pantomimin!
Bis in welche Höhen die seltsame Kunstform des Dramas
ohne Worte hinaufreißen kann, erlebte man in der Steigerung
des letzten Aktes atemlos. Die Einheit von Disziplin und
schöpferischer Kraft, die Tairoffs Kammertheater erstrebt,
feiert in dem „Schleier der Pierrette“ einen großen Triumph.
Auch diesmal gab es lange, begeisterte Huldigungen für eine
aus dem Geiste der Musik geborene, sinnlich und feelisch lebens¬
volle Kunst.


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