II, Theaterstücke 22, Der junge Medardus. Dramatische Historie in einem Vorspiel und fünf Aufzügen (Altwiener Stück, Doppelselbstmord), Seite 122

Wien, I., Cocordiaplatz 4.
Vert retungen
in Berlin, Brüssel, Budapec, Chicago, Cleveland, Christiania,
Genf, Kopenhagen, Lond 1, Madrid, Mailand, Minneapolis,
New-Vork, Paris, Rom, San Francisco, Stockholm, St. Peters¬
burg, Toronto.
Qdellenang e ohne Gewähr.)
Ausschnitt aus:
25.H0U. 1DAUF
vom:
4. 2De
Eine
Schnitzler - Premiere in Wien.
eber die Uraufführung des neuen Dramas
von Artur Schnitzler „Der junge Medar¬
dus“ im Burgtheatere wird uns aus Wien ge¬
schrieben:
Das neue Drama Artur Schnitzlers, oder, wie er
sein Werk nennt, die dramatische Historie
„Der junge Medardus“ spielt im Wien von 1809.
Schon vier Jahre vorher sind die Franzosen in Wien
gewesen, und man hat sie damals als reizende Feinde
kennen und zum Teil sogar lieben gelernt. Aber in
den vier Jahren hat sich manches verschoben. Das
deutsche Nationalbewußtsein beginnt sich zu rühren,
Hoffnungen regen sich und gipfeln in dem Feldherrn
Erzherzog Carl. Auch die Franzosen sind diesmal
nicht mehr so liebenswürdig, da sie sich ihrer Sache
nicht mehr ganz sicher fühlen. Die Stimmung in
Wien ist kurios gemengt. Aus Franzosenbewunde¬
rung und dumpfem Franzosenhaß, aus geschwätziger
Neugierde, käuflicher Feigheit und grollendem Un¬
mut. Das Malheur ist nur, daß niemand recht weiß,
was er will und was er soll. Auch der junge
Medardus Klähr nicht. Er ist der einzige
Sohn der Buchhändlerswitwe Klähr, ein Wiener
Bürgerssohn und Student, wie viele andere, nur noch
um einiges heftiger, stolzer und konfuser. Eben ist
er im Begriffe, gleich den übrigen wehrfähigen Stu¬
denten als braver Landwehrmann ins Feld zu ziehen.
Da tritt ein tragisches Familienereignis dazwischen.
Seine von ihm über alles geliebte Schwester Agathe
hat ein Verhältnis mit François von Valois, dem
jugendlichen Sohn des Herzogs von Valois, der in der
Revolutionszeit aus Frankreich vertrieben wurde und
von Wien aus gegen Napoleon konspiriert, um auf
den Thron zu gelangen. Selbstverständlich will er
von einer Heirat seines Sohnes mit dem Bürger¬
mädchen nichts wissen, und Frangois, der es sehr
ernst meint, geht daraufhin mit Agathe in die Donau.
Die beiden Leichen werden gerade bei dem Wirts¬
haus angeschwemmt, wo sich Medardus mit seinen
Kriegsgefährten versammelt hat. Der erschütternde
Anblick stürzt alles um, läßt Medardus alles ver¬
gessen: Vaterland, Familie, Dienstpflicht. Er hat
jetzt nur ein Ziel und eine Pflicht: den tödlichen Haß
gegen das Haus Valois.
Dies der Inhalt des Vorspiels. In den folgenden
fünf Akten wird die ziemlich wirr und gewunden ver¬
laufende Kurve dieses Hasses entwickelt. Zunächst
trifft Medardus bei dem gemeinsamen Begräbnis
der beiden Leichen mit Helene von Valois, der hoch¬
mütig stolzen und ehrgeizigen Schwester des Ver¬
storbenen zusammen, und zwar in einer leidenschaft¬
lich heftigen und gehässigen Weise, die alle möglichen
Zärtlichkeiten vorausahnen läßt. Vorerst hat er aber
ein Duell mit dem Marquis von Valois, dem Be¬
werber um Helenens Hand und den französischen
Thron, zu bestehen. Sein Degenstich trifft Medardus
fast ins Herz. Helene schickt dem vermeintlich Toten
Blumen ins Haus, und der Schwerverwundete dankt
noch am selben Abend mit einem Besuch über die
Gartenmauer hinüber. Helene verbirgt ihn in ihrem
Zimmer, und er ist eine Nacht lang der Geliebte der
von ihm erbittert gehaßten stolzen Prinzessin von
Valois. Denn auch dies ist Medardus nur
ein Mittel seiner Nache. Er will die Schande
der Prinzessin von Valois hinausschreien in die
ganze Stadt. Aber die zärtliche Sehnsucht ist noch
stärker als die gehässige: Er kommt am nächsten
Abend wieder und findet das Tor verschlossen, die
Mauer von bissigen Hunden bewacht.
Inzwischen ist Wien unter Schrecken und Feuers¬
brunst von den Franzosen belagert und eingenommen
worden. Diesmal sind sie recht ungemütlich. Haus¬
durchsuchungen, standrechtliche Urteile sind etwas
Alltägliches. Medardus geht zwischen diesen blu¬
tigen Ereignissen gleichmütig und träumend dahin.
Erst als er von dem Gerücht hört, daß Helene die
Geliebte des in Schönbrunn residierenden Napoleon
geworden sei, fängt er an, sich zu ermuntern. Dazu
kommt noch die ungerechte, grausame Hinrichtung
seines Oheime des mackeren Sattlermeisters Eschen¬
bacher, und Medardus' gärende Jugend und sein
Rachegelüste haben ein neues, größeres Ziel ge¬
funden: Napoleon. Im Schönbrunner Schloßhofe
kann jeder nahe an ihn heran. Der Kaiser fürchtet
die Wiener nicht. Auf der großen Freitreppe trifft
Medardus mit Helene zusammen. Durch ihren Hoch¬
mut gereizt, ersticht er sie in einer eifersüchtigen Auf¬
wallung. Ohne es zu wollen, hat er damit Napoleon
gerettet, denn die ehrgeizige Helene trachtete dem
Kaiser nach dem Leben. Man will Medardus deshalb
freilassen, sogar belohnen. Aber er bekennt freimütig
seine eigene mörderische Absicht, er weigert sich, dieses
Bekenntnis zurückzunehmen, und das Gegenteil zu
geloben, und wird daraufhin vor den Augen seiner
eigenen Mutter erschossen. Auf Befehl des Kaisers
soll er mit allen Ehren begraben werden, „als dieses
Krieges letzter und seltsamster Held“.
Diese Schlußszene ist die einfachste, aber die stärkste
und dichterischste des ganzen Dramas. Hier erkennt
man auch, wie der Dichter diesen Medardus eigentlich
gemeint hat. Als einen, den Gott zum Helden
schaffen wollte; „der Lauf der Dinge machte einen
Narren aus ihm". Um diesen Medardus herum
bewegt sich eine große Zahl von echten Schnitzler¬
Gestalten: die seltsame kaltleidenschaftliche Mädchen¬
gestalt der Prinzessin Helene, der bucklige philosophi¬
sche Buchhändler Etzelt, der kluge Doktor Assalagey,
der ironische Arzt Büdinger, ein symbolischer uralter
Herr dem nichts mehr nahegeht, der charakterlose
Delikatessenhändler Wachshuber, wie überhaupt das
Die
Wien von 1809 glänzend charakterisiert ist.
Sprache des Stücks ist teils schwungvoll und feierlich,
teils zwanglos wienerisch und enthält manches schöne
und tiefe Wort. Vieles wirkt durch Länge und
Kompliziertheit ermüdend, namentlich die lang¬
wierigen Auseinandersetzungen und Beratungen der
französischen Emigranten. Dagegen gehören andere
Stellen, zum Beispiel der Schluß des Vorspiels, die
nächtliche Gartenszene und der Schluß des dritten und
vierten Aktes, zum Schönsten und Stärksten, was
Schnitzler geschrieben hat.
Von der komplizierten technischen Beschaffenheit
und den gewaltigen Dimensionen der Dichtung ist
schon manches bekannt geworden. Die Buchausgabe
(bei S. Fischer in Berlin soeben erschienen) hat in
der Tat den ganz ungewöhnlichen Umfang von 290
Seiten. Das hätte einer Aufführungsdauer von etwa
sieben Stunden entsprochen. Der Dichter hat daher
für die Aufführung im Burgtheater eine Bearbeitung
vorgenommen, die aber noch immer ungefähr fünf
Stunden dauert. Auch in dieser Bühnenbearbeitung
ist „Der junge Medardus“ ein sehr kompliziertes
Werk mit achtundsiebzig Figuren — also etwa
soviel wie im „Faust“. Das Vorspiel und die fünf
Akte zerfallen in achtzehn Verwandlungen,
was natürlich den Zusammenhang und die geschlossene
Wirkung sehr beeinträchtigt. Dafür gibt es frei¬
lich eine Anzahl wunderschöner Bühnenbilder zu
sehen: eine Altwiener Wohnung, einen kleinen Gast¬
hof an der Donau, ein aristokratisches Gartenpalais,
den Währinger Friedhof, die Burgbastei im Belage¬
rungszustand und die Sehenswürdigkeit des Abends
im großen Schönbrunner Schloßhof. Professor Lefler
hat diese Dekoration nach Altwiener Bildern ent¬
worfen, und Direktor Baron Berger hat zusammen
mit Regisseur Thimig in wochenlangen Proben ein
Meisterstück der Inszenierungskunst zustandegebracht.
Dazu kommt noch eine ganz außerordentliche Be¬
setzung. Es wirken nämlich sämtliche Damen und
Herren des Burgtheaters mit, mit Ausnahme des
alten Baumeister. Die Titelrolle spielt Gerasch, die
Helene Fräulein Wohlgemut, den alten Herzog von
Valois Hartmann, den Eschenbacher Balejhy, den
Etzelt Treßler und so weiter. Ein imposantes künst¬
lerisches Aufgebot, wie es einem Dichter und seinept
Werke nicht oft zur Verfügung steht.
Ludwig Hirschfell.