II, Theaterstücke 22, Der junge Medardus. Dramatische Historie in einem Vorspiel und fünf Aufzügen (Altwiener Stück, Doppelselbstmord), Seite 130

22. Der junge Medandus
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uns zu diesem Ziele führen kann, ist unsere eigene persönliche Ver¬
vollkommnung, die wir anstreben müssen. Wir müssen an Stelle der
gehorsamen Schwäche gegen unsere selbstsüchtigen Gelüste die Aus¬
übung einer mildtätigen Hingebung unserer Mitmenschen gegenüber¬
treten lassen, nach dem evangelischen Gebote: „Tue selbst anderen,
was du willst, daß an dir geschehe!“
Das ist mir die Bedeutung des Lebens, eine andere vermag ich
nicht zu erkennen. Ich bin in meinen Handlungen von diesem Ziele
oft weit entfernt, aber ich übe häufig meine Pflicht an meinem Nächsten
und an der Welt in diesem Sinne. Je weiter ich vorwärts schreite
auf meinem Lebenspfade, desto mehr gewöhne ich mich daran, der
Vorschrift zu entsprechen, und je mehr ich ihr entspreche, desto froher
und leichter und desto unabhängiger von der äußeren Welt wird mein
Leben, und desto sanfter und friedlicher erscheint mir der Tod ..
Jeder Mensch hat seinen Weg, der Wahrheit zu nahen. Ich
kann beruhigt von mir sagen, daß ich in meinen Schriften nicht leere
Worte verbreite, sondern die Gefühle zum Ausdruck bringe, die mein
ganzes Leben, mein ganzes Glück ausmachen und mich in den Tod
begleiten werden.
E. V. Zenker.
Der junge Medardus.

Dramatische Historie in einem Vorspiel und fünf Aufzügen von Arthur Schnitzler.*
Uraufführung am Burgtheater am 24. November 1910.
Der junge Medardus ist ein Wiener Bürgersöhnchen, das bei
dem Herannahen der „großen Armee“ nach der Schlacht bei Ingol¬
stadt in ein Freiwilligenkorps eintritt, um den Weltbesieger Napoleon
zu zerschmettern. So wie heute gar viele nichtstuende Söhnchen wohl¬
habender Wiener Bürgerfamilien, in die große Federarmee eintreten
und die Dichter mimen, so scheinen die äußerlich und innerlich Beruf¬
losen damals ein zweckloses Heldentum gespielt zu haben, um auf
diese Weise in die Weltgeschichte zu kommen. Der junge Medardus
glaubt dem bedrohten Vaterlande sein stolzes Heldentum nicht versagen
zu dürfen, während er in Wirklichkeit nur nicht weiß, was er mit sich
anderes anfangen soll. Mitbestimmend auf den Kriegsfuror des jungen
Mannes wirkt auch die Mama, welche wie eine germanische Helden¬
mutter zwar nicht die Waffen des ausziehenden Sohnes segnet, aber
doch dessen Tornister fürsorglich füllt und den jungen Mann in den
heiligen Streit schickt, damit er das deutsche Vaterland rette, während
sie in dem französischen Welteroberer in Wirklichkeit doch nichts
als den Anlaß haßt, um dessentwillen sich ihr Mann vier Jahre vor¬
her auf den Wiener Glacis eine Todeskrantheit geholt hat. Der junge
Meoardus wird also Held und zieht mit großer Gebärde aus, Aber
er kommt nur bis zu dem Abschiedsgelage in einer Spelunke an der
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