II, Theaterstücke 22, Der junge Medardus. Dramatische Historie in einem Vorspiel und fünf Aufzügen (Altwiener Stück, Doppelselbstmord), Seite 142

„ODOLRVER
f. Ostorr. bebördl. kanz. Unternahmen für Buitungs-Aussochmttn
Wien, I., Conoordiaplats 4.
Verdretungen
in Bertin, Basel, Budapest, Chicago, Glevoland, Giutsfiant.
Oenf, Kopenhagen, London, Madrid, Mailand, Minnenpoits,
Now-Vork, Paris, Rom, San Francisco, Stockholem, Sl. Petuse¬
burg, Toronto.
(Oeeatiamungute

0 100
Ausschnitt aus:
76 11 1910
Wiener Mittags-Zeitung
vom:
7
Theater und Kunst.
„Der junge Medardus.“
Dramatische Historie von Arthur
Schnitler.
Von dem Schweiß und Fleiß des immensen szenischen
Apparats hatte man schon allerlei gehört, eine Monster¬
Premiere sollte es werden, mit den Schwingungen und
Stimmungen einer theatralischen Sensation; aber es ist
mehr, weit mehr geworden, mehr auch, als der Antor
bescheidentlich mit der Marke „dramatische Historie“ verhieß:
die Geburt eines österreichischen Dramas. Aus der Geschichte
der heimatlichen Erde geschürft, dem blutigen Jahre, in
dem sich vor einem Säkulum Deutschlands Freiheitsdrang
in Oesterreich entzündete, im Donner von Aspern
und Wagram, ein frisch blühender Opfermut, der aus der
Schande bitterem Gefühl hervorwuchs, noch nicht reif zur
großen Tat, noch von bänglichem Schwanken scheuer Kriech¬
kgeister gehemmt, von schlauen Heiratsplänchen gekirrt und
genarrt, umsonst sein heißes Blut verspritzend, um einen
trügenden Wahn, wie unten in Tirol der tapfere Sandwirt
von Passeyer zertreten, zermalmt ward vom dröhnenden
Schritt der Zeit: ein plastisch konstruiertes, wundervoll ge¬
schlissenes Spiegelbild jener aufschäumenden Bewegung des
Jahres 1809 ist Schnitzlers jüngstes Drama „Der junge
Medardus“ Auf dem historischen Hintergrunde von farbiger
Bewegtheit ein tragisches Heldengeschick, aller Schmerz und
alle Torheit jener zerrissenen Zeit eingefangen in dem
zuckenden Herzen eines verirrten Heldenjünglings, und da¬
rüber eine berauschende Mischung der Atmosphäre einer
großen Wehezeit. Mit Shakespeareschem Griff hat Schnitzler
in diesem Drama eine Fülle historischer und menschlicher
Wirklichkeiten aufgebaut, in dramatisch packender Gestallung
ein Stück geschichtlichen Lebens und Webens, mit seinen
Derbheiten und Zartheiten, mit seinem Jammer und seinen
verborgenen Lüsten, und mitten in der Buntheit dieser
Gesichte eine erschütternde Tragödie. Ein breit und mächtig
ausladendes, von den Fanfaren der Kriegslust und den
Seufzern des Kriegswehs der Befreiungsjahre durchbehtes,
grandioses Geschichtsdrama; in Form und Sprache aucht ein
Höhepunkt dramatischer Kunstleistung.
Und auch ein Höhepunkt der Burgtheaterkunst war's.
Seinen vollen Schatz an schauspielerischer Edelkraft hat das
Burgtheater der nach durchaus großen Gestaltungen Vver¬
langenden Schöpfung des heimischen Dichters shwelgerisch
dargeboten, und eine liebevolle Arbeitsfreude in der
szenischen Vertiefung, in der künstlerischen Verbildlic## ng
aller poetischen Phantasie. Von den fünfzehn Bildern, in
welche das auf einen fünfstündigen Theaterabend mit allem
maschinellen Aufwand reduzierte Drama zerfällt, war keines,
das nicht bezaubernde Anmut oder fiebernde Spannung
ausströmte. Die gute, alte Wiener Bürgerstube, in der eine
ehrsame Witwe von Mutterglück und Lenzhoffnung träumt,
von dreisachem Gram allmählich verdüstert, die wilde Schenke
am Tonauufer, wo über geller Soldatenlust zwei Todes¬
fackeln jäh aufleuchten, das Friedhofsbild aus Todes¬
stimmung und grellen Humoren grotesk gemischt, der
Schloßgarten, mit seinem falschen Prätendentenglanz, dem
eisig=fahlen Stolz und amonrösen Federballspiel, und dann
das heimliche Boudoir der Prinzessin, mit seiner, giftigen
Wollust, seinen lauernden Liebesnächten und dem furchtbar
grauenden Morgen an der Schloßmauer, die Bastei mit
ihrem glutroten Feuerschein und der donnernden Kanonade,
hinter der schlappe, scheue Neugier kriecht, die breite Frei¬
treppe von Schönbrunn, wo hinter Schwatz und Hurra¬
geschrei ein tragisches Geschick sich vollendet und darüber
hinweg der prunkvolle Siegeszug des großen Unsichtbaren
schreitet. Ein Reichtum an packenden Stimmungen und
szenischen Reizen, an allen Künsten des theatralischen Stils,
wie er wohl selten noch an einem Abend auf der Bühne
geboten ward. Als Quantum schon ist diese ungeheuerliche
Leistung der Burgtheater=Regie allen Respektes wert,
qualitativ ist sie nicht zu überbieten. Unmöglich ist's, den
Einzelleistungen nach Gebühr gerecht zu werden. Dem jungen
Helben gab Herr Gerasch zwar nicht genug taumelnde
Tollheit, die den zur Narrheit verkehrten Heroismus glaub¬
haft macht, aber reichlich sympathische Wärme und
Schwärmerei. Heerlich, groß und berückend Fräulein Wohl¬
gemuth in ihrer kalten, spielerischen Hoffahrt, Frau
Römpler=Bleibtren, eine echt bürgerliche Mutter,
mit einem guten Faden wienerischer Art, Frau Medelsky
und Herr Frank, ein rührendes Liebespärchen,
Treßler und Valajthy prächtige Typen treuer
bürgerlicher Redlichkeit, Korff, einen verschmitzten
Intriganten vortrefflich markierend, Arndt und Heine,
zwei lebenswahre Episoden aus dem ärztlichen Bereiche,
Hartmann (Herzog von Valois), ein großartig nobler,
selbst in seiner Hilflosigkeit königlicher Greis, voll edel ver¬
haltener Würde Fräulein Hönigsvald, als Herzogin,
und ein graziöses Zöfchen Fräulein Hofteufel. Von
den vielen anderen seien noch im Fluge Herr Devrient
(Marquis), Herr Reimers (General Rapp), die Herren
Straßni, Moser, Thimig, Zeska, die Damen
Wagner, Schmittlein, Senders genannt; auf
jedem kleinsten Posten eine Vollkraft. Das Burgtheater hat
Arthur Schnitzler zuhöchst geehrt, er ist ihm den Dank nicht 4
schuldig geblieben.