II, Theaterstücke 22, Der junge Medardus. Dramatische Historie in einem Vorspiel und fünf Aufzügen (Altwiener Stück, Doppelselbstmord), Seite 243

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22. Der junge Ledandus
hektisch entzünden. Da draußen wo, in der Welt schreiten die
Starken, haben Muskel, nicht nur Nerven. Nicht nur heiße,
schmale Hände, die nach verliebten Rosen greifen, dieweil ein
galantes Intermezzo sie entnervt, sondern Fäuste, um an die Tore
einer Stadt, einer Welt zu pochen! Da haben's die Napoleone
dus.
freilich leicht. Auch die im eigenen Lande. Und nun erst der wirk¬
Zum ersten Male im
liche, der echte, der imstande ist, ein so faszinierendes Spektakel
r 1910.)
zu bieten, der als Motor der Ereignisse ein betörendes, sinnauf¬
rüttelndes Kaleidofkop rotieren läßt! Dahin wird auch Medardus
nkuppel des Jahres
hineingezogen. Der junge Wiener, kaum geschaffen, anderes zu er¬
jungen Medardus
leben, als den Klang von Worten. Rache, Liebe, Frühling, Tod,
ungewohnt dimen¬
welche Begriffe, angefüllt mit bittersüßem Reiz! Welche Ver¬
ihn all der Lärm
führungen durch die giftigen Früchte einer bewegten Zeit! So
ndiosen Hintergrund
furchtbar konnte auch ein 1809 nicht sein, um den Medardussen viel
Einzelschicksals hin¬
mehr zu schenken, als schaurig=schöne „Abenteuer der Seele" Es
das Problem des
steckt ihnen im Blut; ein halbes Leben lang, in der weichlichen
ckernden Schwärmers
wiener Luft, unter den Sentiments der Annerln und Agathen,
von so unerhörter
aus dem Bücherspind haben sie es eingesogen. Wahrhaftig: es
es verlohnte, daß
scheint mir nicht ohne Bedeutung, daß der Buchhändlerssohn
Medardus Klähr seine ganze Jugend just im Resedenduft der
daß Schnitzler hier
mütterlichen Stube und zwischen den schöngeistigen Büchern der
zu schreiben versucht
väterlichen Handlung zugebracht hat. ...
Stadt. Des Lieblings
Der Lauf der Dinge und ihr bezaubernder Klang, er macht
ntgesegneten, talent¬
einen „Narren“ aus ihm. Und beinahe aus der ganzen Stadt.
sluft des Aesthetizis¬
Ruchlos interessante Dinge, fürwahr. Diesen „Klang“ erleben
em nie der Purpur
„machen sie mit“ die lieben Wiener,
sie, die Dinge selbst aber
i schlägt. Der, un¬
alle die vielen, die mehr minder Medardus gleichen. Sie ver¬
ielerischen Genuß des
mögen einen Sieg nicht auszunützen; der Rausch des Wortes
ythmik, dem Klang
„Aspern“ macht sie schon überglücklich. Wie unsern seltsamen
ohne die Kraft zu
Helden, dem schließlich das „Wagram“ seines Lebens, das Ende,
it er nur zu, ergötzt
der Tod, auch nur wieder einen neuen Reiz, einen letzten Vor¬
auch drohend immer
wand zur Selbstbespiegelung, einen ungeahnt schönen Theaterakt
hiere Gesten und
bedeutet. Was immer im Gefängnis er spintisierend von der
m großen Eroberer,
ihm ist's
„reinen Tat“ spricht, die er tragisch fühnen wolle,
ne Schritt der Welt¬
doch nur darum zu tun, in Schönheit zu sterben. Da er sich von
n Innersten. Oh, er
Napoleon zertreten läßt, gibt dieser junge Mann seiner Stadt
tegorische Imperativ
wenigstens ein empfindsames und schönes Beispiel.
ihn den Tschako auf
Ein weiser, gerecht abwägender Poet hat Schnitzler dem
mmung“ wird ihm
sair der Ereignisse ihn! Medardus in Jakob Eschenbacher ein Gegengewicht geboten. Das
ist ein Aufrechter, dieser Sattlermeister, unangekränkelt vom Phäaken¬
geist und unangefochten von der Degeneration, der sein Neffe auf
der „glücklichen“ wiener Insel anheimgefallen. Sicher war er nie
ein „junger Herr“ gewesen, und ich möchte wetten, daß schon sein
Vater nicht erbgesessen, sondern ein Zugereister war. Deutsche
Bauernkraft, wie sie — zu des Reiches Glück, auch aus öster¬
reichischem Boden vollsaftig zu quellen pflegt. Zumal Balajthys
Gestaltungskraft hat in Eschenbachers Bild diesen mannhaft=rusti¬
kalen Zug verwoben; doppelt erschütternd wirkte darum sein Gang
zum Tode, eine Apotheose der Selbstbeherrschung. Und das
Seitenstück: Frau Bleibtreu, echteste Mütterlichkeit, blutend¬
stes Leben. Der Wolterschrei der Natur hat seine Erbin ge¬
funden.
Aber da bin ich unversehens bei der Aufführung, der es
mit zu danken ist, wenn man, nach langer Zeit, wieder einmal
das Burgtheater als unseren kostbaren Besitz schätzen darf. Der
Bourbonenkopf Hartmanns, die Prinzessenhaltung der Wohl¬
gemuth, die geistreiche Strichtechnik Treßlers, die Charakteri¬
sierungskunst Korffs, die feingeschnittenen Medaillons, welche
Herr Arndt und Herr Straßni boten, tauchen mir aus der
Fülle der Gesichte auf. Herr Gerasch war nicht mehr als ein
hübscher Junge und ein wienerischer schon gar nicht. Dennoch
konnte er dem Gesamteindruck einer Tragödie nicht schaden, deren
mannigfache Schwächen, deren zeitweiliges Versinken in Theaterei,
deren Mängel der technischen Konstruktion und Oekonomie nicht
verschwiegen werden sollen.
Wohl aber gerne vergessen und vergeben über dem Fein¬
gehalt dieser Dichtung, die einen nicht geringen Anreiz aus der
ungewohnten Mischung von Biedermeiertum und Tragik, von
Lavendel und Pulverdampf zieht. Wir lieben diesen Poeten, schon
ob der feinen Geistigkeit, mit der er dichterisch=individuelle Züge
in die geläufigste Szene trägt, ob dem Wehmutslachen und der
Und
Wehmutsträne, die das Antlitz seiner Historie überglänzen,
wir lieben beinahe seinen Medardus, der wenigstens den bravburösen
Aufschwung zu einer Tat besessen, wiewohl für sie selbst sein
Wollen so schlank gewesen und feinnervig, wie seine Gestalt. Wir
die
lieben beide, denn in ihnen lieben wir uns selbst, wit
Theodoy Groß.
jungen Wiener!..