II, Theaterstücke 22, Der junge Medardus. Dramatische Historie in einem Vorspiel und fünf Aufzügen (Altwiener Stück, Doppelselbstmord), Seite 253

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22. Der junge Nedandus
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J. Minor, Schnitzlers „Der junge Medardus“.
selber denkt; er geht hin, weiß was er will, verrät sich, weist standhaft die
Begnadigung zurück und stirbt gefaßt und mannhaft. Das alles ist von an¬
#tiker Einfachheit und ebenso einfach ist der Charakter, bei dem sich den echten
Geschichtsschreibern die Namen Scävola und Brutus von selbst auf die Lippen
drängten. Es hat vielleicht keine Periode gegeben, in dem es weniger brüchige
Charakter gegeben hätte, als die Zeit der Patrioten, die bei aller Verblendung
des Sinnes und bei aller Verwirrung des Gefühles doch immer wußten, was
sie wollten, die mit doktrinärem Eigensinn mit dem Kopf durch die Wand
rannten. Sie waren alle Ideologen, von einem feierlichen und unheimlichen
Ernst und den erotischen Empfindungen sogar in den Jahren der Pubertät
auf so unnatürliche Weise entrückt, daß sie die Liebe eigentlich nur in dem
Stile des Max Piccolomini kannten und von den süßen Mädeln, mit denen
der junge Medardus sich so reich behängt hat, gar nichts wußten. Und nun
unser junger Medardus! Eine Hamletnatur, eine problematische Natur, die nie
zu der großen Tat kommt, der eigentlich nie weiß, was er will, am aller¬
wenigsten bei der Katastrophe. Denn so wie sie oben erzählt wurde, erscheint.
sie uns doch erst in den letzten Worten des Medardus, bei seiner Rekapitu¬
lation der äußeren und inneren Vorgänge; es ist immer schlimm, wenn der
Dichter sich gezwungen sieht, zu rekapitulieren, der dramatische Dichter wenig¬
stens. In der Schönbrunner Szene weiß kein Mensch, wen Medardus er¬
morden will, in den ganzen zwei letzten Akten handelt es sich um beständige
Willensänderungen, um ein ewiges Zurücknehmen seiner Entschließungen, die
dem Zuschauer daher auch unverständlich bleiben müßten, wenn das Burg¬
theater hier nicht einen wohltätigen Strich angebracht hätte. Und wenn ihm
Helene, die nicht den Tyrannen, sondern den politischen Rivalen ermordet
sehen will, seine Tat entstellt hat, so weiß man wirklich nicht, wie er sie
später anklagen kann, daß sie ihrer hohen Sendung untreu geworden sei, in¬
dem sie die Geliebte des Kaisers wurde. Die Mutter des jungen Medardus
sieht auch hier zweifellos klarer und nüchterner, wenn sie die Liebe als den
wahren Kern seiner Empfindungen bezeichnet. In der Tat ist diese dramatische
Historie kein historisches Drama, sondern eine höchst romantische und aben¬
teuerliche Liebestragödie. Der Dichter des Anatol und der Liebelei, dem man
wie dem alten Wieland so oft den Vorwurf gemacht hat: „Von Liebe —
und immer von Liebe!“ wollte uns einmal geschichtlich kommen; aber er kann
nicht aus seiner Haut heraus, es reicht nur zu einer Liebeshistorie. Anatol
im Kostüme der Befreiungskriege, das ihm nicht steht, ist fürwahr ein „selt¬
samer Held“.
Der Dichter hat das wohl auch selber empfunden. Denn diese Handlung
spielt sich auf einem ganz kleinen Raume in kurzen, mitunter sogar knappen
Szenen vor dem Zuschauer ab, während eine sehr detaillierte Darstellung der
politischen und militärischen Vorgänge die volle Breite der Bühne und sogar
noch die Perspektive in den Hintergrund für sich in Anspruch nimmt und auch
eine umständliche Milieuschilderung die im Grunde sehr einfache Medardus¬
handlung so erstickt, daß sie wie ein dünner Faden in einem ungeheuren Ge¬
webe erscheint, den der Zuschauer nicht sicher in den Händen behält und mit¬