II, Theaterstücke 22, Der junge Medardus. Dramatische Historie in einem Vorspiel und fünf Aufzügen (Altwiener Stück, Doppelselbstmord), Seite 254

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22. Derjunge Nedandus
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J. Minor, Schnitzlers „Der junge Medardus“
unter auf weite Strecken ganz aus den Augen verliert. Nicht bloß den Dialog,
auch das szenische Tableau hat der Dichter dabei zu Hilfe gerufen. Mitten im
Stücke läßt er den Medardus und seine Helene im Stich und führt uns auf
die Burgbastei zur Belagerung von Wien und im letzten Akt vor die Terrasse
von Schönbrunn, wo hinter der Szene soeben der Wiener Frieden abgeschlossen
worden ist. Von geschichtlicher Größe umflossen ist die Gestalt Napoleons, den
wir immer nur aus dem Gesichtspunkt seiner Gegner kennen lernen und der
doch die ganze Handlung überragt. Weislich hat ihn Schnitzler nicht selber
auftreten lassen, sondern wie die modernen Verfasser von biblischen Dramen
die Gestalt des Erkösers, nur im Hintergrund vorüberreiten oder hinter der
Szene Politik machen lassen; natürlich waren für ihn nicht wie für die Christus¬
dichter Zensurgründe maßgebend, sondern die rein künstlerische Erwägung,
daß das französische Gegenspiel in der Medardushandlung nicht durch den
Kaiser, sondern durch die Valois vertreten ist und daß Napoleon bei seinem
Auftreten dieses Gegenspiel ganz erdrückt und den Gesichtswinkel verschoben
hätte. Wer wollte überhaupt leugnen, daß Schnitzler in diesen historisch=politi¬
schen Szenen und mehr noch in den Milieuschilderungen viel Schönes gelungen
ist? Wir sehen das alte Wien von 1809 mit seinen Basteien, seinen Praterauen,
seinen traulichen Interieurs und seinen Buchladen leibhaftig vor uns und hören
die Collinschen Wehrmannslieder von Studenten absingen; wir finden in dem Wien
von anno dazumal mit Behagen unser liebes Wien von heute wieder, wie es
immer war und ist, mit seinen süßen Mädeln, seinen feschen Studenten und den
unsterblichen Naderern, aber auch mit dem echten Urwiener, den Schnitzler in dem
Sattlermeister Eschenbacher sehr glücklich und wirksam verkörpert hat, während
der alte Eipeldauer von 1809 nicht mehr von ihm zu erzählen weiß, als daß
er auf der Esplanade erschossen worden sei, weil man ein kleines Arsenal (bei
Schnitzler ist es ein verbotener Atlas) bei ihm gefunden habe; schade nur, daß
diese schönen und reichen Zugaben noch immer kein historisches Drama er¬
geben. Die Wahrheit ist: wir haben die knappe Medardushandlung, die zwar
echt Schnitzlerischen Geistes, aber doch nur Historie und nicht Geschichte ist;
und wir haben eine lange Reihe von breiten geschichtlichen Dialogen und
Tableaus, die kein Drama sind. Wir haben also keine dramatische Historie,
sondern ein Schnitzlerisches Drama und die Geschichte nebeneinander; zu einem
Ganzen haben sich Drama und Geschichte nicht verbunden. Der Umfang allein
macht nicht das geschichtliche Drama aus, wie der Dichter zu glauben scheint;
und man wäre fast versucht, anzunehmen, daß sich die geschichtlichen Szenen
erst nachträglich durch Aggregation an den festen Kern angeschlossen haben,
den sie zuletzt ganz in die Mitte drängten und verhüllten.
Aber „Der junge Medardus“ will nicht bloß ein historisches Drama,
sondern auch ein vaterländisches Schauspiel sein. Wenn ein Mann wie Schnitzler
ein Jubiläumsstück für 1809 schreibt, so darf man von vornherein erwarten,
daß er nicht in die patriotische Posaune stoßen wird und daß er nach Verlauf
von hundert Jahren auch die tönende Phrase vermeiden wird, an der es im
Zeitalter der Befreiungskriege wahrlich nicht gefehlt hat. Er schildert uns, wie
es in so aufgeregten und wetterwendischen Zeiten immer und überall zugeht