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22. Der junge Nedardus
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J. Minor, Schnitzlers „Der junge Medardus“.
und er stellt die Wiener von 1809 nicht besser hin, als sie in Wirklichkeit
waren. Heute rufen sie dem Kaiser Franz ihr Vivat zu, morgen dem Kaiser
Napoleon; und jedesmal meinen sie's ganz aufrichtig, gerade aus den Patrioten“
werden die besten Franzosen. „Begeistert sein ist leicht, aber wissen wofür, das
ist die Kunst“, so sagt der alte Eschenbacher, zwar nichts weniger als ein poli¬
tischer Raisonneur, aber das eigentliche Sprachrohr des Dichters. Die Haupt¬
sache bleibt immer, daß das Geschäft geht; und eine Landkarte, die als ver¬
botene aber gerade deshalb vielbegehrte Ware aus dem Buchladen von Me¬
dardus Mutter bei dem alten Eschenbacher versteckt wird, bringt diesem den
Tod. Auch Medardus selber ist ja, wie wir gesehen haben, eigentlich kein
Held fürs Vaterland; er handelt immer aus privaten Empfindungen heraus,
aus dem Gefühl der Rache für den verstorbenen Vater, für die verführte
Schwester, für den ermordeten Onkel und für die treulose Geliebte. Die Franzosen
sind nicht bloße Teufel, wie bei den Dichtern der Befreiungskriege, und Napoleon
ist nicht der Höllenhund, den man einfach totschlagen muß; sie werden von jedem
so beurteilt, wie es ihm in seinen Kram paßt. Wenn Gefahr im Verzug ist, er¬
innert man sich gern daran, daß sich die Franzosen vor vier Jahren ganz anstän¬
dig aufgeführt haben und daß man so honetten Leuten am Ende auch die Stadt
übergeben könnte, anstatt sie in Trümmer schießen zu lassen; gerade so, wie
auch der zeitgenössische Eipeldauer mit unverhehlter Freude die Franzosen be¬
trachtet, die im Jahre 1809 zum zweiten Male in Wien sind und auf dem
Glacis mit vierjährigen Kindern spielen, die ihnen so merkwürdig ähnlich
sehen. Wenn es aber wirklich zum Krieg kommt, dann sind die einzelnen
immer feig, die Massen aber tollkühn. Besonders hübsch hat Schnitzler das
Verhalten der Wiener Frauen in der schweren Zeit der Not geschildert: die
eine zittert vor Furcht, die andere bebt vor Neugierde, sie freut sich schon aufs
Gemetzel und ärgert sich, „wenns wieder nix is“ Mit einem Wort: für jeden
dieser Wiener ist die Politik ein inneres Erlebnis, und das innere Erlebnis
wird stets durch das äußere bestimmt. Und wenn sich Schnitzler in seiner Ab¬
lehnung der patriotischen Phrase mit dem Dichter von „Lysanders Mädchen“
zusammenfindet, so steht er hier auf dem gleichen Boden, wie der Dichter von
„Glauben und Heimat“ der auch der Phrase so absichtlich aus dem Wege
geht und das religiöse Problem mit der Frage nach dem heimatlichen Boden,
das innere Erlebnis mit dem äußeren, verbindet. Nicht ohne Grund sagt
der alte Eschenbacher: „Mit dem Patriotismus halt ichs wie andere mit der
Religion“.
An das Theater stellt das neue Stück von Schnitzler, dessen anderthalb
Dutzend Verwandlungen fast nur aus Ensemble= und Massenszenen bestehen
und die Bühne fortwährend in atemlose Bewegung setzen, die denkbar größten
Anforderungen. Der neue Direktor des Burgtheaters hat die schwere Aufgabe,
vor der sein Vorgänger verzagte, frisch und beherzt in Angriff genommen und
im Verein mit dem Regisseur Thimig und mit dem Dichter in überraschend
kurzer Zeit gelöst, ohne dem Stück oder dem Burgtheater etwas schuldig zu
bleiben. Ein sehr guter Gedanke war es, die zweite Friedhofsszene zu streichen
und damit der Verwirrung des Gefühles in dem jungen Helden und bei dem
22. Der junge Nedardus
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J. Minor, Schnitzlers „Der junge Medardus“.
und er stellt die Wiener von 1809 nicht besser hin, als sie in Wirklichkeit
waren. Heute rufen sie dem Kaiser Franz ihr Vivat zu, morgen dem Kaiser
Napoleon; und jedesmal meinen sie's ganz aufrichtig, gerade aus den Patrioten“
werden die besten Franzosen. „Begeistert sein ist leicht, aber wissen wofür, das
ist die Kunst“, so sagt der alte Eschenbacher, zwar nichts weniger als ein poli¬
tischer Raisonneur, aber das eigentliche Sprachrohr des Dichters. Die Haupt¬
sache bleibt immer, daß das Geschäft geht; und eine Landkarte, die als ver¬
botene aber gerade deshalb vielbegehrte Ware aus dem Buchladen von Me¬
dardus Mutter bei dem alten Eschenbacher versteckt wird, bringt diesem den
Tod. Auch Medardus selber ist ja, wie wir gesehen haben, eigentlich kein
Held fürs Vaterland; er handelt immer aus privaten Empfindungen heraus,
aus dem Gefühl der Rache für den verstorbenen Vater, für die verführte
Schwester, für den ermordeten Onkel und für die treulose Geliebte. Die Franzosen
sind nicht bloße Teufel, wie bei den Dichtern der Befreiungskriege, und Napoleon
ist nicht der Höllenhund, den man einfach totschlagen muß; sie werden von jedem
so beurteilt, wie es ihm in seinen Kram paßt. Wenn Gefahr im Verzug ist, er¬
innert man sich gern daran, daß sich die Franzosen vor vier Jahren ganz anstän¬
dig aufgeführt haben und daß man so honetten Leuten am Ende auch die Stadt
übergeben könnte, anstatt sie in Trümmer schießen zu lassen; gerade so, wie
auch der zeitgenössische Eipeldauer mit unverhehlter Freude die Franzosen be¬
trachtet, die im Jahre 1809 zum zweiten Male in Wien sind und auf dem
Glacis mit vierjährigen Kindern spielen, die ihnen so merkwürdig ähnlich
sehen. Wenn es aber wirklich zum Krieg kommt, dann sind die einzelnen
immer feig, die Massen aber tollkühn. Besonders hübsch hat Schnitzler das
Verhalten der Wiener Frauen in der schweren Zeit der Not geschildert: die
eine zittert vor Furcht, die andere bebt vor Neugierde, sie freut sich schon aufs
Gemetzel und ärgert sich, „wenns wieder nix is“ Mit einem Wort: für jeden
dieser Wiener ist die Politik ein inneres Erlebnis, und das innere Erlebnis
wird stets durch das äußere bestimmt. Und wenn sich Schnitzler in seiner Ab¬
lehnung der patriotischen Phrase mit dem Dichter von „Lysanders Mädchen“
zusammenfindet, so steht er hier auf dem gleichen Boden, wie der Dichter von
„Glauben und Heimat“ der auch der Phrase so absichtlich aus dem Wege
geht und das religiöse Problem mit der Frage nach dem heimatlichen Boden,
das innere Erlebnis mit dem äußeren, verbindet. Nicht ohne Grund sagt
der alte Eschenbacher: „Mit dem Patriotismus halt ichs wie andere mit der
Religion“.
An das Theater stellt das neue Stück von Schnitzler, dessen anderthalb
Dutzend Verwandlungen fast nur aus Ensemble= und Massenszenen bestehen
und die Bühne fortwährend in atemlose Bewegung setzen, die denkbar größten
Anforderungen. Der neue Direktor des Burgtheaters hat die schwere Aufgabe,
vor der sein Vorgänger verzagte, frisch und beherzt in Angriff genommen und
im Verein mit dem Regisseur Thimig und mit dem Dichter in überraschend
kurzer Zeit gelöst, ohne dem Stück oder dem Burgtheater etwas schuldig zu
bleiben. Ein sehr guter Gedanke war es, die zweite Friedhofsszene zu streichen
und damit der Verwirrung des Gefühles in dem jungen Helden und bei dem