box 26/6
22. DerjungeNedandus
393
J. Minor, Schnitzlers „Der junge Medardus“.
Zuschauer zu steuern; Medardus erscheint jetzt allerdings anders, männlicher
und kräftiger, als bei Schnitzler, das Stück hat aber entschieden gewonnen.
Ja, man hätte vielleicht noch weiter gehen und auch an den Szenen, die zur
Hinrichtung Eschenbachers führen, Kürzungen vornehmen können. Man müßte
dabei freilich in rosiges Fleisch schneiden, aber die zweite Hälfte des Stückes
verlangt gebieterisch, daß die Medardushandlung, die fast ganz im Milieu er¬
stickt, freigelegt und nicht durch eine neue Exposition des Eschenbacherdramas, von
dem doch nur die Hinrichtungsszene für sie von Bedeutung ist, in den Hintergrund
gedrängt werde. Unter den schauspielerischen Leistungen war nicht eine einzige mi߬
lungen; was viel sagen will, wenn man bedenkt, daß fast das ganze Personal des
Burgtheaters, wenigstens das männliche, in Anspruch genommen wurde und daß
sogar unter den Komparsen alles, was Sprache hat, mitspielen durfte. Wenn in
einer Vorstellung, bei der ein halbes Dutzend von Schauspielern zwei Rollen
an einem Abend spielen muß und umgekehrt wieder ein und derselbe Schau¬
spieler eigentlich gleichzeitig in zwei Rollen auf der Bühne stehen müßte,
keiner versagt, dann darf man wohl von einem Ehrenabend dieses Theaters
reden und den Kranz, ohne ihn zu zerpflücken, dem ganzen Institute reichen.
Das Verdienst jedes einzelnen zu würdigen, verbietet sich von selbst, wo der
Theaterzettel ein Lexikonformat angenommen hat. Aufs Geratewohl greifen wir
Herrn Reimers als General Rapp, der in dem Stück Napoleon vertritt, und
unter den Trägern der Medardushandlung den braven Balajthy als Eschen¬
bacher und die Mutter, Frau Römpler=Bleibtreu, heraus, zwei echte Altwiener
Typen, während Herr Gerasch auf seinem schwierigen Posten den anheimelnden
Wiener Ton vermissen ließ und mehr Staps, als Medardus war. In der Rolle
des von der Natur so stiefmütterlich behandelten stillen Liebhabers und auf jeder
Probe ausharrenden Freundes kam Herrn Treßler sein treuherziges Schwaben¬
tum trefflich zustatten; und Herr Korff macht aus dem verräterischen Delikatessen¬
händler eine famose Figur. Die Eheleute Frank=Medelsky durften sich dieses Mal
endlich auch auf der Bühne liebend zusammenfinden und stellten ein entzückendes
Paar vor. Wer aber vermöchte den wonnigen Anblick zu beschreiben, den die
Damen Medelsky, Mell, Wagner, Wilke usw. als Mädel in der Altwiener Tracht
boten! Die Wiener Bürger von dem uralten Herrn bis zu dem flaumbärtigen
Buchhändlergehilfen hinunter waren in allen Lebensaltern, Ständen und Typen
charakteristisch vertreten; die Namen möge der Leser aus dem Theaterzettel
ergänzen. Auf der französischen Seite, die nicht minder reich an originellen
Figuren war, stand Herr Hartmann im Mittelpunkt, der den alten Herzog in
seiner eingebildeten Majestät sehr glücklich repräsentierte, leider aber in der
Darstellung eines blinden Mannes ganz fehlgriff, indem er ihn mit starren
Augen, halboffenem Munde und tastenden Geberden spielte; die Blinden aber
bewegen sich in ihrer gewohnten Umgebung völlig sicher, sie reagieren nach
außen gar nicht, ihr Blick erscheint uns vielmehr sinnend ins Innere gerichtet.
Sehr würdig stellte Fräulein Hönigswald die Herzogin dar und Fräulein Hof¬
teufel war eine charmante Zofe. Die schwerste Aufgabe war Fräulein Wol¬
gemuth zugefallen, die buhlerische und hochstrebende Prinzessin Helene. Sie ist
zweifellos die interessanteste Gestalt in dem ganzen Stück: herzlos und doch
22. DerjungeNedandus
393
J. Minor, Schnitzlers „Der junge Medardus“.
Zuschauer zu steuern; Medardus erscheint jetzt allerdings anders, männlicher
und kräftiger, als bei Schnitzler, das Stück hat aber entschieden gewonnen.
Ja, man hätte vielleicht noch weiter gehen und auch an den Szenen, die zur
Hinrichtung Eschenbachers führen, Kürzungen vornehmen können. Man müßte
dabei freilich in rosiges Fleisch schneiden, aber die zweite Hälfte des Stückes
verlangt gebieterisch, daß die Medardushandlung, die fast ganz im Milieu er¬
stickt, freigelegt und nicht durch eine neue Exposition des Eschenbacherdramas, von
dem doch nur die Hinrichtungsszene für sie von Bedeutung ist, in den Hintergrund
gedrängt werde. Unter den schauspielerischen Leistungen war nicht eine einzige mi߬
lungen; was viel sagen will, wenn man bedenkt, daß fast das ganze Personal des
Burgtheaters, wenigstens das männliche, in Anspruch genommen wurde und daß
sogar unter den Komparsen alles, was Sprache hat, mitspielen durfte. Wenn in
einer Vorstellung, bei der ein halbes Dutzend von Schauspielern zwei Rollen
an einem Abend spielen muß und umgekehrt wieder ein und derselbe Schau¬
spieler eigentlich gleichzeitig in zwei Rollen auf der Bühne stehen müßte,
keiner versagt, dann darf man wohl von einem Ehrenabend dieses Theaters
reden und den Kranz, ohne ihn zu zerpflücken, dem ganzen Institute reichen.
Das Verdienst jedes einzelnen zu würdigen, verbietet sich von selbst, wo der
Theaterzettel ein Lexikonformat angenommen hat. Aufs Geratewohl greifen wir
Herrn Reimers als General Rapp, der in dem Stück Napoleon vertritt, und
unter den Trägern der Medardushandlung den braven Balajthy als Eschen¬
bacher und die Mutter, Frau Römpler=Bleibtreu, heraus, zwei echte Altwiener
Typen, während Herr Gerasch auf seinem schwierigen Posten den anheimelnden
Wiener Ton vermissen ließ und mehr Staps, als Medardus war. In der Rolle
des von der Natur so stiefmütterlich behandelten stillen Liebhabers und auf jeder
Probe ausharrenden Freundes kam Herrn Treßler sein treuherziges Schwaben¬
tum trefflich zustatten; und Herr Korff macht aus dem verräterischen Delikatessen¬
händler eine famose Figur. Die Eheleute Frank=Medelsky durften sich dieses Mal
endlich auch auf der Bühne liebend zusammenfinden und stellten ein entzückendes
Paar vor. Wer aber vermöchte den wonnigen Anblick zu beschreiben, den die
Damen Medelsky, Mell, Wagner, Wilke usw. als Mädel in der Altwiener Tracht
boten! Die Wiener Bürger von dem uralten Herrn bis zu dem flaumbärtigen
Buchhändlergehilfen hinunter waren in allen Lebensaltern, Ständen und Typen
charakteristisch vertreten; die Namen möge der Leser aus dem Theaterzettel
ergänzen. Auf der französischen Seite, die nicht minder reich an originellen
Figuren war, stand Herr Hartmann im Mittelpunkt, der den alten Herzog in
seiner eingebildeten Majestät sehr glücklich repräsentierte, leider aber in der
Darstellung eines blinden Mannes ganz fehlgriff, indem er ihn mit starren
Augen, halboffenem Munde und tastenden Geberden spielte; die Blinden aber
bewegen sich in ihrer gewohnten Umgebung völlig sicher, sie reagieren nach
außen gar nicht, ihr Blick erscheint uns vielmehr sinnend ins Innere gerichtet.
Sehr würdig stellte Fräulein Hönigswald die Herzogin dar und Fräulein Hof¬
teufel war eine charmante Zofe. Die schwerste Aufgabe war Fräulein Wol¬
gemuth zugefallen, die buhlerische und hochstrebende Prinzessin Helene. Sie ist
zweifellos die interessanteste Gestalt in dem ganzen Stück: herzlos und doch