II, Theaterstücke 22, Der junge Medardus. Dramatische Historie in einem Vorspiel und fünf Aufzügen (Altwiener Stück, Doppelselbstmord), Seite 297

* (Weihnachtsbücher.) Es gibt kein Saisonbuch. Der große
Schlager ist heuer ausgeblieben. Die Menschheit, die zu Weihnachten
Bücher kaufen und schenken will, wird sich schon auf ihren eigenen Ge¬
schmack verlassen müssen. Allerdings gibt es eine Reihe guter und sehr
empfehlenswerter Bücher, die auch sehr viel verlangt werden, wenn auch
nicht gerade ein bestimmtes dominiert. Kommerzialrat M. Müller,
der Chef der Firma R. Lechner am Graben, betont ganz besonders, daß
die Schriftsteller, die heuer vor allen anderen das Ohr des großen
Publikums haben, zum großen Teile Oesterreicher sind. Braucht es ge¬
sagt zu werden, daß Schnitzlens „Junger Medardus“ in den letzten
Tagen einen Sturm auf aue Buchhandlungen verursacht hat? Ein bisher
weniger Bekannter, Hans Hart, ein Pfeudonym, hinter dem sich
Dr. v. Molo birgt, hat rasch mit seiner „Liebesmusik“, einer Altwiener
Geschichte, die weiteste Aufmerksamkeit auf sich gelenkt. Rudolf Hans
Bartsch hat mit seinen „Bittersüßen Liebesgeschichten“ zwar keinen
so großen Erfolg errungen wie mit seinen früheren Werken, aber trotz¬
dem ist auch nach diesem Werk die Nachfrage ungemein rege. Einen der
größten Bucherfolge dieser Saison hat nach den Erfahrungen der Lechner¬
schen Buchhandlung einer errungen, der nicht mehr unter den Lebenden
weilt: Speihel mit seinen Schriften, die erst jüngst, in zwei Bänden
gesammelt, herausgegeben wurden. Es gibt noch eine Reihe anderer
Sachen, deren Erfolg ja als eine Selbstverständlichkeit mit dem Namen
des Autors verknüpft ist. So „O Mensch“, der neueste Band aus Her¬
mann Bahrs Wiener Romanserie, „Eros Thanatos“ von Schaukal,
„Die Masken Erwin Reiners“ von Jakob Wassermann, „Balladen
und Lieder“ von Ginzkey, „Christinas Heimreise“ von Hofmanns¬
thal, das Drama „Glaube und Heimat“ von Schönherr. Das
wären die besten unter den Oesterreichern. Kaum wird man, wenn man
eine Auslese unter den Reichsdeutschen trisst, und von der allerdings
auch viel begehrten Marktware absieht, ihrer so viele finden: Haupt¬
mann, „Der Narr in Christo“ Hermann Hesse, „Gertrud“ Heysc,
„Das Ewig=Menschliche“ Fulda, „Herr und Diener", Thoma,
„Erster Klasse“. Ein unerschöpflicher Born für den Weihnachtstisch ist
natürlich Jugendliteratur, die alljährlich nach bewährten Mustern weiter¬
arbeitet. Kommerzialrat Müller hat bekanntlich speziell in den letzten
Jahren einen nahezu neuen Zweig der Wiener Literatur geschaffen, dem
der Erfolg auch nicht versagt blieb. Es ist die liebevolle Schilderung
Wiens in Wort und Bild, in Form von prächtigen Bänden. Große
dauernde Erfolge brachten auf diesem Gebiet dem Verlage Peter¬
manns „Wien“, dann ein ähnliches Werk mit geleitendem Text von
Paul Wilhelm und in neuester Zeit eine entzückende Sammlung
alter Wiener Ansichten, die unter dem Titel „Aus der Jugendzeit
unseres Kaisers“ erschienen ist. Einigermaßen anderer Art sind natürlich
die Erfahrungen, welche mit dem Weihnachtsmarkt Herr Hugo Heller,
der Besitzer der modernen Buchhandlung auf dem Bauernmarkt, ge¬
macht hat. Da die Aufmerksamkeit des kaufenden Publikums heuer von
einzelnen Werken nicht in hervorragender Weise gefesselt wurde, hat sie
sich, wie Herr Heller beobachten konnte, vornehmlich der Buchkunst,
das heißt der künstlerischen äußeren Gestaltung der Bücher, insbesondere
aber künstlerisch ausgestatteten Neuausgaben der Klassiker zugewendet.
Auf dem Gebiete der Buchkunst leisten die Franzosen und Engländer
ganz Außerordentliches. Die ersteren sind bei der Ausstattung ihrer
Prachtbände wieder zu einem guten alten Stil zurückgekehrt. Man findet
da beisvielsweise eine Manpassant=Ausgabe in 30 Bänden zum Preise
von 600 Kronen und eine mit unerhörtem, aber doch vornehmem Luxus
ausgestattete „Bibliotheque historique“. Die Stärke der Engländer
wiederum liegt in den Ledereinbänden, die sie zu gerade lächerlich
billigen Preisen herzustellen vermögen. In Deutschland suchen die ver
schiedenen Verlage die verschiedensten Dinge, und zwar durchwegs mit
künstlerischem und auch materiellem Erfolg. So hat der Insel=Verlag mit
peinlichster Genauigkeit die allererste Ausgabe von Gocthes „Werther“
und von Lessings „Nathan“ nachbilden lassen, und obwohl der Band
40 Mark kostet, ist der „Nathan“ schon vergriffen. Diederichs macht
Prachtausgahen von „Faust“ und — was für die Zeitläufte wieder sehr
charakteristisch ist — insbesondere von den evangelischen Schriften. So
sind in diesem Verlag zweihundert Exemplare der „Bergpredigt“ in einem
handschriftenähnlichen Druck erschienen, das Exemplar zum Preise von
90 Mark. Der Propyläenverlag hat eine 40bändige Goethe=Ausgabe
herausgegeben, die zum Preise von 1000 Kronen käuflich war, aber
nahezu vollständig vergriffen ist. Von den 250 Ausgaben dieser dunklen
Lederbände sind ungefähr 30 nach Wien gewandert. Entsprechend dieser
Wandlung im Geschmack halten sich auch die Kataloge der verschiedenen
Verlagsanstalten. Alle die genannten haben für Weihnachten Bücher¬
verzeichnisse und Kalender erscheinen lassen, die größtenteils wahre Pracht¬
werke sind. Heller selbst gibt ja seit kurzem die „Wiener Kunst= und
Buchschau“ heraus, die regelmäßig ein nach Inhalt und Ausstattung
gleich bemerkenswerter Band ist. Man müßte jetzt nur noch imstande
sein, zu ergründen, ob diese Neigung des Publikums zu seltsamen
Prachtbänden wirklich echt ist oder ob sie das Resultat einer von den
Verlegern klug ausgenützten Konjunktur darstellt.
Cent, Kopentungen. Pcen e P
New-Vork, Paris, Rom, San Francisco, Stog“
burg, Toronto.
Geellenangabe ohne Gewähr.)
Ausschnitt aus: Ilustriertes Wiener Extrablatt
12.1910
Wien
vom:
Wiener Theatergeschichten.
XIV.
Was kostet „Der junge Medardus“?
Das Burgtheater hat an Schnitzlers
dramatischer Historie „Der junge Medardus“ ein Zug¬
und Kassastück gewonnen. Alle bisherigen Aufführungen
fanden starken Zulauf. In der Hoftheaterbehörde, wo
man vor der Première wegen der großen Ausstattungs¬
kosten mit sorgenvollen Mienen herumging, schmunzeln
jetzt die Kassiere und betrachten mit vergnügten Sinnen
die Einnahmenrapporte. „Der junge Medardus“ bringt
viel Geld ein, aber er verursacht auch einen
ungewöhnlichen Aufwand. Wie ich erfahre,
wurden für Dekorationen, Kostüme und
Requisiten nicht weniger als 82.000 Kronen
bezahlt. Bei jeder ausverkauften Vorstellung
wird eine Einnahme
von sechstausend¬
fünfhundert Kronen erzielt, von welchen
dem Dichter zehn Prozent an Tantiemen
gebühren. Die Werbekraft der Novität muß an¬
halten, weil auch die vielen Proben, die der Première
vorausgingen, das Ausgabenkonto stark belasteten.
Dazu kommen die bedeutenden Spesen für jede
einzelne Wiederholung der figurenreichen Historie von
Anno 1809. Es dürfte das Publikum interessieren,
zu vernehmen, daß bei jeder Reprise die Spiel¬
honorare zweitausendfünfhundertund¬
sechzig Kronen ausmachen. Die Spiel¬
honorare sind selbstverständlich abgestuft:
variieren von hundert Kronen bis zu fünf
Kronen!. Von den fix engagierten Komparsen
bezieht das einzelne Mitglied vier Kronen pro
Abend; die zeitweilig verpflichteten Statisten
werden mit zwei Kronen vierzig Heller
pro Mann entlohnt. Ergibt für jede Vorstellung eine
Auslage von nahezu fünfhundert Kronen.
Und noch eine, nicht unbedeutende Ausgabepost: Der
Mehrverbrauch an elektrischem Licht.
Schnitzlers „Der junge Medardus“ hat eine Spiel¬
dauer von nahezu fünf Stunden. Es müssen deshalb
im Hause die elektrischen Lampen um durchschnittlich
neunzig Minuten länger brennen, wofür zirka
hundert Kronen für den Abend mehr zu ent¬
richten sind. Auch zu dramatischen Kriegen braucht
man Geld, Geld und wieder Geld!
Der Einkaufskorb der Frau Klähr.
Ein lustiges Hiktörchen aus der Wiener Histori¬
Schnitzlers. Schauplatz: die Bastei während der jüngste
Reprise. Hedwig Römpler=Bleibtreu hat als
Mutter Klähr mit einem Einkaufskorbe zu erscheinen.
In der Runde stehen die Kollegen und Kolleginnen;
sie sind ermüdet von der langen Tätigkeit im
Dienste des Poeten. Ein menschliches Rühren
faßte während einer Reprise die Tragödin und
ohne daß der gestrenge Regisseur Thimig etwas
merken kounte, wurde der Inhalt des Korbes ausgepackt
und an die hungrigen Genossen verteilt. Hei,
wie die appetitlichen Schinkenbrode, Knackwürste,
die belegten Salzstangel und die kunsperigen Bretzen
aus dem Behälter herauskommen und rasch an die
Männer, beziehungsweise an die Frauen und Fräul
gebracht werden. Ein großes Schnabulieren hebt auf
offener Szene an — diesmal werden nicht „cachierte“
Sachen herumgereicht. Und die Solisten sowohl wie
die Komparsen preisen die Wirtin wundermild, die mit
ihrem feschen Einfall neue Schaffenslust in die Reihen
bringt, die geschwächten Geister zu frischem Leben
weckt. So „naturalistisch“ ging es noch auf keinem
Theater zu, als kürzlich während der Basteien¬
szene im Hofburgtheater.
In der Hitze der
improvisierten Mahlzeit griff ein sehr bekannter
Hofschauspieler zu schneidig hinein ins volle
Einkaufkorbsleben und als er ein Knackwürstchen
packen wollte, entschlüpfte seinen Fingern das braune
Ding . . . im Bogen sprang es über die Bühne hin¬
weg... in den Orchesterraum hinein, wo die Musiker dem
appetitlichen Flüchtling eine gastliche Aufnahme be¬
reiteten. Wehe dem, der fliegt! Das Publikum be¬
gleitete die lustige Episode, an die Schnitzler in seinen
kühnsten Phantasieträumen wohl nicht gedacht hat, mit
kichernder Laune.