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Ausschnitt aus:
Der Neue
Derzn
4- FEBRUAR 1911
ven1
—
Wiener Premieren: Milieu-Stücke
Von Hans Wantoch
huitler wie eine
Der junge Medardus. Den Schauspielern muß Arth
beglückende Fee, wie ein Mädchen aus der Fremde erscheinen; er hät über 80 Figuren
in das Spiel seiner dramatischen Historie gestellt, und es sind 82 — 4 Menschlich¬
keiten geworden. Dieses eine Minus bedeutet freilich das Defizit des ganzen Schau¬
spiels, denn es trifft die Hauptgestalt des jungen Medardus. Der ist kein positiver
Mensch, sondern ein negativer, kein Tätiger, sondern ein Erdulder. Schnitzlers
deutlich erklärte Absicht ging dahin, eine Gestalt zu schaffen, die das Zeug zu einem
Helden hatte, aber durch die Macht der Umstände zum Narren wurde. Und diese
Absicht ist antikünstlerisch. Denn äußere Umstände sind im höheren Sinn nur eine
Zufälligkeit, Kunst aber bedeutet gesetzmäßige Erhöhung und sinnbildliche Ausdeutung
des Lebens. Da aber die hohe Schönheit der Dichtung eine Darstellung zur Pflicht
macht, ergibt sich für den Spieler des Medardus das Problem, uns das recht blä߬
liche Schemen menschlich näher zu rücken. Was Schnitzler nur gesagt hat, wird
er gestalten müssen; denn das rudimentäre, eingekapselte Heldentum Medardus
Klährs wird durch die Lektüre des Buches nicht miterlebt. Nur durch die Haltung
des Schauspielers könnte es ausgedrückt werden. Der müßte ihn aus irdischer Ge¬
wöhnlichkeit in Sphären dunkler, triebhaft verworrener Zusammenhänge rücken und
ihn in jenes Zwielicht stellen, in welchem vor mehr als einem Jahrhundert die Sil¬
houette des Wallenstein aufgetaucht ist. Auch Wallenstein ist nicht heldisch; aber
groß, menschlich bedeutend. Der junge Medardus in Schnitzlers Dichtung nur ein
Kleiner in einer großen Zeit, menschlich genau so wichtig, wie einer der sieben Studen¬
ten, die mit ihm in der Donauschenke sitzen und weniger wichtig als seine Mutter,
sein Oheim Eschenbach, seine Geliebte, die Herzogstochter. Und doch soll unsere Teil¬
nahme an sein Schicksal gebunden werden, weil das Stück, das ganze Geschehen mit
seinem Namen verknupft ist. Darum muß er gleichsam von hinten herum zum Be¬
herrscher dieses Geschehens erhöht werden, das in Wirklichkeit nicht von ihm aus¬
geht, sondern ihn führt und verstrickt. Warum? Nur wegen seiner elementaren,
undisziplinierbaren Leidenschaftlichkeit, die ihn jäh anfällt und von jedem vorsätz¬
lichen Wollen abbiegt. Der junge Medardus steckt ganz im Augenblick, und die nächste
Minute ist stärker als er. Er will ihrem Inhalt und ihrer Pflichtforderung ent¬
weichen, aber ihr Inhalt ist kraftvoller als sein Fluchtversuch. Darum biegt sie ihn
doch wiederum zu sich herüber. Sein individualistisches Glücksbegehren gilt ihm
teurer als die Erfüllung einer allgemeinen Mission, die von ihm zuerst den Kampf
gegen Rapoleon, dann die Rache an der Valois verlangt. Und die Kontrastierung
zwischen selbstbewahrendem Ichverlangen und den Anforderungen der Umwelt könnte
dem jungen Medardus seine szenische Bedeutung geben. Sie wäre nicht gegen die
Dichtung, sondern bloß neben ihr; denn dieser junge Mensch hat gelernt und erlebt,
welchen Wert das Dasein hat, wie rasch der Tod den Menschen anfällt, und daß es
darum gilt, hastig jeden Glückszipfel zu erhaschen. Als Napoleon das erstemal in#
Wien war, starb ihm der Vater, der vom Morgen bis zur Nacht als Ehrengarde auf
den Wällen stehen mußte und in der herben Winterluft tödlich erkrankte. Und dieses
plötzliche, ganz unheldische Sterben seines Vaters, das von der Mutter als Schimpf
und Schmach gefühlt wird, gibt dem Leben, dem Planen und Wollen des Sohr#s
den Grundton. Der ruft ihm täglich und stündlich zu, seinem Dasein schleunigst einen
bedeutenden Inhalt zu geben, in jeden Tag, jede Stunde und jede Minute Glück und
Wonne zu pressen. So wird der junge Medardus zum Augenblicksmenschen, zum anti¬
sozialen Proleten, der an der Zeit und ihrem Gebot vorübergeht; nur daß freilich
auch diese Zeit sich um ihn nicht kümmert. Und das ist das antidramatische Grund¬
gebrechen des Schnitzlerschen Dramas. Allein es könnte vermindert werden,
wenn man die Augenblickslaune des jungen Medardus zu überdimensionaler Leiden¬
schaft steigerte, in der eine Unsumme latenter Kräfte spürbar wird; denn es ist nur
halb wahr, daß sich die Menschen rings herum um den jungen Medardus nicht küm¬
mern. Immer wieder kommen sie zu ihm, nähern sich mit ihren Wünschen, die Mutter,
die den Tod des Vaters an Napoleon gesühnt wünscht, der verkümmerte Etzelt, dem
mit der Schwester des jungen Medardus die stille Liebe entschwand, Helene von
Valois, die von ihm den Mord an dem Korsen begehrt. Die Mutter, der Freund, die
Geliebte: sie erwarten von ihm ein Großes, eine befreiende Tat, mag sie Rache an
den Valois oder Rache an Rapoleon heißen. Sie begehren und wollen von ihm ein
Geschehnis, er aber will nur sich selber. Sein Schwanken und Abbiegen darf uns
nicht als Laune erscheinen, es muß Erzeugnis einer ungebärdigen Leidenschaftlichkeit
sein, deren vielfach gebrochene Aeußerungen über dem einen, ewig unveränderten
Wunsch sich selber zu genügen angeordnet sind. Das ist das Gesetz dieses Menschen,
das sich freilich nicht erfüllt, mehr noch: nicht entfalten, nicht klar ausdrücken kann.
Und sein ganzes Leben, sein ganzes, immer verpfuschtes Tun ist nichts andres als ein
Ad absurdum-Führen seines eigenen Lebensgesetzes. Unter solchem Gesichtswinkel
wird sein Tod nicht kindische Laune, nicht hilfloses Langen nach einem Heldenkranz,
sondern ein notwendiges, tragisches Ergebnis seines inneren Zusammenbruches, der
Ausdruck seiner Erkenntnis, daß er seinem Gesetz nicht genügen konnte, wiesalle Halb¬
genies, denen der Teufel in ihre göttlichen Fähigkeiten hineinpfuscht.
Ausschnitt aus:
Der Neue
Derzn
4- FEBRUAR 1911
ven1
—
Wiener Premieren: Milieu-Stücke
Von Hans Wantoch
huitler wie eine
Der junge Medardus. Den Schauspielern muß Arth
beglückende Fee, wie ein Mädchen aus der Fremde erscheinen; er hät über 80 Figuren
in das Spiel seiner dramatischen Historie gestellt, und es sind 82 — 4 Menschlich¬
keiten geworden. Dieses eine Minus bedeutet freilich das Defizit des ganzen Schau¬
spiels, denn es trifft die Hauptgestalt des jungen Medardus. Der ist kein positiver
Mensch, sondern ein negativer, kein Tätiger, sondern ein Erdulder. Schnitzlers
deutlich erklärte Absicht ging dahin, eine Gestalt zu schaffen, die das Zeug zu einem
Helden hatte, aber durch die Macht der Umstände zum Narren wurde. Und diese
Absicht ist antikünstlerisch. Denn äußere Umstände sind im höheren Sinn nur eine
Zufälligkeit, Kunst aber bedeutet gesetzmäßige Erhöhung und sinnbildliche Ausdeutung
des Lebens. Da aber die hohe Schönheit der Dichtung eine Darstellung zur Pflicht
macht, ergibt sich für den Spieler des Medardus das Problem, uns das recht blä߬
liche Schemen menschlich näher zu rücken. Was Schnitzler nur gesagt hat, wird
er gestalten müssen; denn das rudimentäre, eingekapselte Heldentum Medardus
Klährs wird durch die Lektüre des Buches nicht miterlebt. Nur durch die Haltung
des Schauspielers könnte es ausgedrückt werden. Der müßte ihn aus irdischer Ge¬
wöhnlichkeit in Sphären dunkler, triebhaft verworrener Zusammenhänge rücken und
ihn in jenes Zwielicht stellen, in welchem vor mehr als einem Jahrhundert die Sil¬
houette des Wallenstein aufgetaucht ist. Auch Wallenstein ist nicht heldisch; aber
groß, menschlich bedeutend. Der junge Medardus in Schnitzlers Dichtung nur ein
Kleiner in einer großen Zeit, menschlich genau so wichtig, wie einer der sieben Studen¬
ten, die mit ihm in der Donauschenke sitzen und weniger wichtig als seine Mutter,
sein Oheim Eschenbach, seine Geliebte, die Herzogstochter. Und doch soll unsere Teil¬
nahme an sein Schicksal gebunden werden, weil das Stück, das ganze Geschehen mit
seinem Namen verknupft ist. Darum muß er gleichsam von hinten herum zum Be¬
herrscher dieses Geschehens erhöht werden, das in Wirklichkeit nicht von ihm aus¬
geht, sondern ihn führt und verstrickt. Warum? Nur wegen seiner elementaren,
undisziplinierbaren Leidenschaftlichkeit, die ihn jäh anfällt und von jedem vorsätz¬
lichen Wollen abbiegt. Der junge Medardus steckt ganz im Augenblick, und die nächste
Minute ist stärker als er. Er will ihrem Inhalt und ihrer Pflichtforderung ent¬
weichen, aber ihr Inhalt ist kraftvoller als sein Fluchtversuch. Darum biegt sie ihn
doch wiederum zu sich herüber. Sein individualistisches Glücksbegehren gilt ihm
teurer als die Erfüllung einer allgemeinen Mission, die von ihm zuerst den Kampf
gegen Rapoleon, dann die Rache an der Valois verlangt. Und die Kontrastierung
zwischen selbstbewahrendem Ichverlangen und den Anforderungen der Umwelt könnte
dem jungen Medardus seine szenische Bedeutung geben. Sie wäre nicht gegen die
Dichtung, sondern bloß neben ihr; denn dieser junge Mensch hat gelernt und erlebt,
welchen Wert das Dasein hat, wie rasch der Tod den Menschen anfällt, und daß es
darum gilt, hastig jeden Glückszipfel zu erhaschen. Als Napoleon das erstemal in#
Wien war, starb ihm der Vater, der vom Morgen bis zur Nacht als Ehrengarde auf
den Wällen stehen mußte und in der herben Winterluft tödlich erkrankte. Und dieses
plötzliche, ganz unheldische Sterben seines Vaters, das von der Mutter als Schimpf
und Schmach gefühlt wird, gibt dem Leben, dem Planen und Wollen des Sohr#s
den Grundton. Der ruft ihm täglich und stündlich zu, seinem Dasein schleunigst einen
bedeutenden Inhalt zu geben, in jeden Tag, jede Stunde und jede Minute Glück und
Wonne zu pressen. So wird der junge Medardus zum Augenblicksmenschen, zum anti¬
sozialen Proleten, der an der Zeit und ihrem Gebot vorübergeht; nur daß freilich
auch diese Zeit sich um ihn nicht kümmert. Und das ist das antidramatische Grund¬
gebrechen des Schnitzlerschen Dramas. Allein es könnte vermindert werden,
wenn man die Augenblickslaune des jungen Medardus zu überdimensionaler Leiden¬
schaft steigerte, in der eine Unsumme latenter Kräfte spürbar wird; denn es ist nur
halb wahr, daß sich die Menschen rings herum um den jungen Medardus nicht küm¬
mern. Immer wieder kommen sie zu ihm, nähern sich mit ihren Wünschen, die Mutter,
die den Tod des Vaters an Napoleon gesühnt wünscht, der verkümmerte Etzelt, dem
mit der Schwester des jungen Medardus die stille Liebe entschwand, Helene von
Valois, die von ihm den Mord an dem Korsen begehrt. Die Mutter, der Freund, die
Geliebte: sie erwarten von ihm ein Großes, eine befreiende Tat, mag sie Rache an
den Valois oder Rache an Rapoleon heißen. Sie begehren und wollen von ihm ein
Geschehnis, er aber will nur sich selber. Sein Schwanken und Abbiegen darf uns
nicht als Laune erscheinen, es muß Erzeugnis einer ungebärdigen Leidenschaftlichkeit
sein, deren vielfach gebrochene Aeußerungen über dem einen, ewig unveränderten
Wunsch sich selber zu genügen angeordnet sind. Das ist das Gesetz dieses Menschen,
das sich freilich nicht erfüllt, mehr noch: nicht entfalten, nicht klar ausdrücken kann.
Und sein ganzes Leben, sein ganzes, immer verpfuschtes Tun ist nichts andres als ein
Ad absurdum-Führen seines eigenen Lebensgesetzes. Unter solchem Gesichtswinkel
wird sein Tod nicht kindische Laune, nicht hilfloses Langen nach einem Heldenkranz,
sondern ein notwendiges, tragisches Ergebnis seines inneren Zusammenbruches, der
Ausdruck seiner Erkenntnis, daß er seinem Gesetz nicht genügen konnte, wiesalle Halb¬
genies, denen der Teufel in ihre göttlichen Fähigkeiten hineinpfuscht.