II, Theaterstücke 22, Der junge Medardus. Dramatische Historie in einem Vorspiel und fünf Aufzügen (Altwiener Stück, Doppelselbstmord), Seite 342

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die zwar „Musik gern hören“, ohne eigentlich musikalisch zu
scheinlich. Humperdiuck sicherte ihn sich vollends, indem er
sein, laben sich immer wieder an den einfachen, herzigen
aufs Volkslied zurückgriff und unbeschadet der behen An¬
Melodien der Oper. Sie lassen sich gefangen nehmen von
sprüche, die er an sich selber stellte, die kindliche Einfachheit
dem Wohllaut des Orchesters, ohne ihrerseits sagen zu
dennoch wahrte. Und doch haben wir es hier erlebt, daß
können, worin er besteht. Sie sind durchaus empfänglich
der Musiker Humperdiuck von breiten Kreisen nicht erkannt
für die Waldstimmung und die Kuckucksszene, ohne die Mittel
und in der Wertschätzung, die man ihm entgegenbrachte, einfach
prüfen zu können, durch die Humperdiuck die Stimmung
mißverstanden wurde. Wer in Humperdiuck, wie viele es
hervorzaubert. Sie halten sich an die leicht faßlichen,
tun, einen Tonkünstler sieht, der sich lediglich aufs Kindliche
schlichten und gesunden Melodien und empfinden im übrigen
und Gemütvolle versteht, der sieht ihn ganz falsch. Gewiß:
nur vage und allgemein den Reichtum und die Farbenpracht
diese Eigenschaften sind ihm in hohem Grade zuzusprechen.
dieser Musik, ohne die Künste der Polyphonie zu begreifen,
Aber sie erschöpfen ihn bei weitem nicht.
vielleicht ohne sie zu ahnen. So hört' der Laie. Und es ist
Vor Jahren habe ich einmal einer Aufführung von
ihm durchaus gedient damit. Sein musikalisches Begriffs¬
„Häusel und Gretel“ in einer deutschen Kleinstadt bei¬
vermögen hat gewisse Grenzen. Er erlebt die Wirkung
gewohnt, die von einer wandernden Theatergesellschaft ver¬
der Partitur, ohne ihre Ursachen zu erkennen. Er hört
anstaltet war. Das Orchester stellte die Militärkapelle der
die Tondramen Wagners auch nicht anders.
Stadt. Die groteske Vereinfachung der Partitur, in der
Der musikalisch Gebildete hört mehr. Ganz besonders
nicht nur einzelne Teile, sondern überhaupt ganze Stimmen
bei Humperdiuck. Er hört, je nach dem Grad seiner Be¬
und Instrumente fehlten, die unsagbar schlechte Darstellung des
gabung und Bildung, die einzelnen Farben des Orchesters,
Hänsel und der Gretel durch zwei Frauenzimmer, die einem
er hört die kontrapunktische Arbeit und die meisterhafte
Tingeltängel entsprungen schienen, die lächerlich primitive
Stimmführung, die bei aller Kühnheit doch so unvergleichlich
Ausstattung und die entsetzliche Leistung des Orchesters —
sauber und wohlklingend ist, er hört hinein in diese ganze
das alles reichte nicht hin, das Werk umzubringen. Auch
erstaunliche Polyphonie, die, aller Verschlingung und Durch¬
in der absurdesten Verstümmelung fand es noch lebhaften
dringung zum Trotz, doch so kristallklar und greifbar erscheint.
Beifall. Diese Kleinstädter ließen sich also eine Darstellung
Und er erkennt die ganze Meisterschaft, die sonveräue Be¬
bieten, die jeden musikalisch Kundigen gruseln machte. Was
herrschung der Mittel und vor allem die Selbstbeherrschung
wirkte? Es wirkte die Handlung an sich in Verbindung mit
eines Tondichters, der nie ins Charakterisieren à tout prix
den leicht faßlichen, schlichten und zum Teil schon vertrauten
verfällt und nie der künstlerischen Okonomie eine Belastungs¬
Melodien. War das aber überhaupt Humperdiucks Werk,
probe zumutet, die dem Stil gefährlich werden könnte. Er
das da noch wirkte? Hatten diese guten Leute, die Beifall
hört also gleichsam hinter die Kulissen, in die Werkstatt des
klatschten, auch nur eine Ahnung davon, wer der Musiker
Komponisten, oder wie man es sonst ausdrücken will.
Humperdiuck sei?
Musiker von Beruf, Fachleute in Amt und Ehren
So wurde „Häusel und Gretel“ gütlich mißverstanden.
haben immer ein mildes Achselzucken für solche Talente
Aber nicht nur in dieser Kleinstadt. Daß die musikalische
gehabt, die nicht erweislich ihre schönsten Jahre auf
Bedeutung dieses Komponisten von weiten Kreisen nicht
einem Konservatorium abgesessen haben. Selbst die Tat¬
erfaßt werde, vielleicht gar nicht erfaßt werden könne,
sache, daß der große Sebastian Bach ein Autodidakt
diese Vermutung wurde schon damals, und nicht nur von
von reinstem Wasser war (um Tschaikowsky und
so
mir, ausgesprochen. Sie wurde durch die Tatsachen bestätigt,
manchen andern zu übergehen), kann diese Zeloten nicht
als die „Königskinder“ und die „Heirat wider Willen“ er¬
belehren. Sie wollen nicht einsehen, daß immer noch ein
schienen. Die „Königskinder“ sind Humperdinck reifste und
sehr tüchtiger Musiker sein kann, auch wer keine Fuge zu
tiefste Schöpfung bis heute. Er wird auch schwerlich über
schreiben sich zutraut, und daß anderseits gar mancher, der
sie hinauswachsen. Wie aber verhielt und verhält sich das
musterhafte Fugen baut, nicht einen Funken eigner Persönsiche
deutsche Volk zu den „Königskindern“?
keit besitzt. Mit welcher Geringschätzung haben sie auf
Die Frage aufwersen heißt eine Grenze ziehen zwischen
Mascagni herabgesehen! Wie sehr klafft hier der Unter¬
dem Volk und dem „populären“ Humperdiuck. Es ist nicht
schied zwischen dem Urteil des Volks und dem Urteil der
meine Absicht einen Keil zu treiben zwischen beide. Aber
Auguren!
über dieses Mißverständnis muß doch einmal gesprochen
In Humperdinck treffen sich nun einmal beide: der Laie,
werden. Es gilt also in diesen Abgrund hineinzusehen, seine
der sonst nur die Operette goutiert, und der Fachmann, für
Tiefe und seine Breite zu ermessen, vielleicht auch eine
den ein guter Quartettsatz das höchste Entzücken bildet. In
Brücke des Verständnisses zu konstruieren. Nur fürchte ich,
Humperdinck treffen und versöhnen sich die extremsten Auf¬
daß die Vogenspannung, die hier erforderlich wäre, allen
fassungen von dem, was man Musik nennt, ohne daß Humver¬
Gesetzen der Schwerkraft und Gewichtsverteilung Hohn
dinck selber auch nur das geringste dazu getan hätte. Der
spricht und daß sich
leicht kei: Baumeister finden wird,
Laie wird befriedigt und der Fachmann wird befriedigt.
der die Verantwortung übernehmen möchte. Paul Zschorlich.
Jeder in seiner Weise.
X
Die Hochschätzung der Fachgenossen hat noch nie einem
Das Wiener Dolk im „Sungen Iledardus“
Künstler zur Popularität verholfen. Sie kann ihm unter
Arthur Schnitzler: Der junge Medardus.
Umständen eher schaden. Es ist Max Schillings nicht ge¬
Eine dramatische Historie. Verlag von S. Fischer
lungen das deutsche Volk zu erobern, obwohl er die Stoffe
in Berlin. 290 S. Preis: 4,50 M.
seiner Opern dem deutschen Volksleben entnahm und obwohl
Im Wiener Burgtheater wurde „Der junge Medardus“
über seine künstlerische Tüchtigkeit ein Zweifel nicht bestehen
von Arthur Schnitzler aufgeführt. Die dramatische Historie
kann. Felix Dräseke, von seinen Kollegen hochgeschätzt, dringt
mit den 74 Personen, die Einzelstimmen des Volkes nicht ge¬
aller Propaganda zum Trotz, die für ihn gemacht wird,
rechnet; das Drama mit den sechs langen Akten und den
nicht im mindesten durch. Hans Pfitzner bringt es zu
ungezählten Verwandlungen.
Das Publikum trug diese
glänzenden Lokalerfolgen, aber man wird nicht behaupten
szenische Riesenlast wie ein starker Christof mit freudiger
können, sein „Armer Heinrich“ oder seine „Rose vom Liebes¬
Ausdauer.
garten“ seien Besitztum des Volkes.
Es soll hier nicht dem Drama Schnitzlers sein kritisch
Einem Humperdinck kam, das ist nicht zu übersehen, der
Recht werden, nicht das lose Gefüge von Zeit= und Menschen¬
Tert zu Hilfe. Einem Mascagni („Cavalleria rusticana“),
gemälden auf den Wert seiner inneren Einheit geprüft
einem Leoncavallo („Der Bajazzo“), einem Wilhelm Kienzl
werden; so viel aber sei gesagt: der Zuschauer wird sich in
(„Der Evangelimann“), einem Heinrich Zöllner („Die ver¬
dieser Flucht mannigfaltiger Episoden nicht eines großen
sunkene Glocke“) ebenfalls. Solange es Menschen gibt, die
Menschenschicksals bewußt. Zahlreiche mit groteskem Ernst,
auf die Bühne sehen, anstatt ins Orchester zu hören, wird
in kaum merklicher Karikatur hingezogene Szenen, die am
die Handlung immer den Erfolg fördern oder vereiteln.
Wiener „Hose“ eines aus Frankreich verbannten Herzogs
Das wird sich nie ändern, denn solche Menschen wird es
von Valois spielen, eines halb idiotischen und ganz blinden
immer geten. Die Handlung von „Hänsel und Gretel“
Greises, der nach der Königskrone Frankreichs giert und
allein also machte einen breiten Erfolg von vornherein wahr=I konspiriert,
diese langen Strecken des Schauspiels haben
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Berlin -Wilmersdort ),# ½.
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