II, Theaterstücke 22, Der junge Medardus. Dramatische Historie in einem Vorspiel und fünf Aufzügen (Altwiener Stück, Doppelselbstmord), Seite 347

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22. Der junge Wardus
Stücke gehen zunächst auf die Be= tümern Schnitzler die Verquickung
von Dichtung und Kulturhistorie ge¬
friedigung geistiger Schaulust aus,
führt hat, merkt man erst, wenn
und wo nebenbei Tieferes ange¬
man seinem „Jungen Medardus“
strebt ist, wird wie in Schnitz¬
Schönherrs „Glaube und Heimat“
lers „Jungem Medardus“ die Auf¬
gegenüberstellt. Auch hier liegt der
gabe des Historischen im Drama
Versuch vor, eine große Zeitbewe¬
völlig verkannt. Eine große Zeitbe¬
gung dramatisch darzustellen. Wie
wegung wollte Schnitzler in bun¬
anders geht aber Schönherr zu
ten Bühnenbildern einfangen, und
Werke. Ihm ist es hauptsächlich
um die dramatische Form seines
um ein Reinmenschliches zu tun und
epischen Beginnens zu rechtfertigen,
darum drängt er alles Historische
brauchte er ein Einzelschicksal, das
in eine einzige Gestalt zusammen:
die losen Bilder verknüpft. Dieses
in die des Reiters, der als frem¬
Einzelschicksal ist wohl da, verkör¬
des, schreckhaftes Element der politi¬
pert im jungen Medardus, dem Hel¬
schen Außenwelt in die religiöse
den des Spektakels. Auch ein
Innenwelt des Bauernvolkes tritt
brauchbarer dramatischer Hand¬
und zugleich den Fanatismus ver¬
lungskern mit genügenden Span¬
körpert, der die Gegenreforma¬
nungselementen. Wie dieser junge
tion ins Werk gesetzt hat. Man
Medardus ausgeht, Napoleon zu
wähnt hinter ihm die streitbare
töten, und wider Willen zu seinem
Romkirche leibhaftig zu sehen und
Retter wird, weil die, die ihm den
daneben ihren willfährigen Diener
Dolch in die Hand gedrückt, ihm
auf dem österreichischen Kaiserthron
als Mätresse des gehaßten Erobe¬
mit seinem ganzen Stab von frei¬
rers verleumdet wird, und seine
willigen und unfreiwilligen Söld¬
Eifersucht nun Rache und Vergel¬
nern, und fühlt sich durch ihn den¬
tung an ihr übt, statt an dem Kor¬
noch nicht verletzt, weil er zugleich
sen — daraus hätte sich freilich
auch die poetische Gerechtigkeit ver¬
mehr, viel mehr machen lassen, als
tritt. Indem Schönherr die Hand¬
eine jungwienerische Hamlet=Imita¬
lung auf die Schicksale der aller¬
tion im Altwiener Kostüm. Bei
dings in drei Generationen darge¬
Schnitzler huscht alles, was nach
stellten Familie Rott beschränkt,
dramatischer Gestaltung verlangt,
führt er seine Tragödie eines Vol¬
anekdotisch vorüber und vor lauter
kes auf die denkbar einfachsten
Schauen und Hören kommt man
Linien zurück. Und dennoch: bei
nicht zum Miterleben. Ihm war
all der Sparsamkeit der Mittel
es eben zunächst um das Milien
welche Fülle von Kontrasten, die
zu tun, also um das Sekundäre
den Kampf des evangelischen Berg¬
im Droma, und wenn er sein
volkes um Heimat und Glauben be¬
Stück als „dramatische Historie“ be¬
leuchten. Ohne den festen Boden
zeichnete, so geschah dies wohl nur
eines gesunden, wenn auch poetisch
aus Verlegenheit und weil er das
stilisierenden Realismus unter den
bestimmte Gefühl hatte, kein ge¬
Füßen zu verlieren, wird fast jede
schlossenes Drama erreicht zu haben.
Gestalt zum Symbol und kaum eine
Wie hinfällig aber diese Bezeich¬
einzige Episode, die nicht das tiefere
nung ist, dafür mag die Tatsache
Seelenleben und die Weltanschau¬
sprechen, daß gerade die Personen,
ung der Träger der Handlung ent¬
die die Handlung bestreiten, erfun¬
hüllen hülfe. In dieser Kunst der
den sind, also unhistorisch.
Zu welchen künstlerischen Irr= Vereinfachung und Zusammenfas¬
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