II, Theaterstücke 22, Der junge Medardus. Dramatische Historie in einem Vorspiel und fünf Aufzügen (Altwiener Stück, Doppelselbstmord), Seite 383

box 26/7
22. Der junge Nedardus
406 Ludwig Hirschfeld: 180
Ahnlichkeit. Dort war's Ce¬
sare Borgia, der gegen Bo¬
logna drohend heranzieht.
Diesmal ist's Napoleon, der
Wien belagert. Die Stim¬
mung im Wien von 1809 ist
wunderlich gemengt: Aus
Franzosenbewunderung und
dumpfem Franzosenhaß, aus
geschwätziger Neugierde, käuf¬
licher Feigheit und grollen¬
dem Unmut. Niemand weiß
recht, was er will und was
er soll. Auch der junge Me¬
dardus Klähr nicht. Er ist
der einzige Sohn der Buch¬
händlerswitwe Klähr, ein
Wiener Bürgerssohn und
Student wie viele andere,
nur noch um einiges heftiger,
stolzer und konfuser. Eben
ist er im Begriffe, gleich den
übrigen wehrfähigen Studen¬
ten als braver Landwehr¬
mann ins Feld zu ziehen.
Da tritt ein tragisches Fa¬
dazwischen.
milienereignis
Seine geliebte Schwester
Agathe hat ein Verhältnis
mit François von Valois.
dem Sohn des Herzogs von
Valois, der in der Revo¬
lutionszeit aus Frankreich
vertrieben wurde und von
Wien aus gegen Napoleon
konspiriert, um auf den Thron
zu gelangen. Selbstverständ¬
lich will er von einer Heirat
seines Sohnes mit dem
Bürgermädchen nichts wissen,
und François, der es sehr

ernst meint, geht darauf mit
Agathe in die Donau. Die
beiden Leichen werden gerade
bei dem Wirtshaus ange¬
Sjereaeb

schwemmt, wo sich Medardus
mit seinen Kriegsgefährten
versammelt hat. Der erschüt¬

ternde Anblick läßt Medardus
Alfred Gerasch in der Titelrolle in Arthur Schnitzlers Werk „Der
alles vergessen: Familie, Va¬
junge Medardus“. Nach einer Aufnahme von F. 4. Setzer in Wien.
terland, Dienstpflicht. Er
hat jetzt nur mehr ein Ziel
rischen Drama hin. Dies Gebiet, auf dem und eine Pflicht: den tödlichen Haß gegen
fast jeder dichterische Dramatiker sein Können das Haus Valois.
einmal erprobt, hat auch Artur Schnitzler
Dies der Inhalt des Vorspiels. In den
schon einigemal betreten. Mit dem „Grünen
folgenden fünf Akten wird die ziemlich ge¬
Kakadu“ und dem „Schleier der Beatrice“,
wunden verlaufende Kurve dieses Hasses
seiner stärksten und seiner schwächsten drama¬
entwickelt. Medardus beleidigt die Schwester
tischen Leistung. An diese „Beatrice“ erinnert
des Verstorbenen, die stolze Helene von
„Der junge Medardus“ vielfach. Nicht nur,
Valois, duelliert sich mit ihrem Bräutigam,
daß beide Figuren den Familienzug der
schleicht sich dann, von einer zärtlich ge¬
Schnitzlerschen Gestalten tragen, das träu¬
hässigen Sehnsucht getrieben, schwer ver¬
mende, dämmernde Sichselbstnichtverstehen,
wundet in den Garten und ist eine Nacht
das Tändeln mit dem Leben, mit der Liebe lang ihr Geliebter. Inzwischen ist Wien
und mit dem Tode — auch die ganze Vor= belagert und eingenommen worden. Me¬
aussetzung, die Stimmung der historischen dardus geht zwischen diesen blutigen Ereig¬
Situationen ist von einer merkwürdigen nissen träumend dahin. Erst als er von dem