II, Theaterstücke 22, Der junge Medardus. Dramatische Historie in einem Vorspiel und fünf Aufzügen (Altwiener Stück, Doppelselbstmord), Seite 444

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der von der bewegten Menschheit herstrahlt, wird wieder auf sie zurück¬
reflektiert. Sie stehen in einem doppelten Lichte: als Menge unter
dem großen Schein der großen Ereignisse, als Individuen unter der
Helligkeit einer unerbittlichen Psychologie. Sie funktionieren prächtig
in Massen und haben doch die Gesichter von Einzelwesen, die genau zu
unterscheiden sind. Nicht sehr angenehme Gesichter: Neugierde, Ge¬
schwätzigkeit, Stumpfheit, herzloser Leichtsinn und schadenfrohe Schuf¬
terei sind mit scharfen kleinen Strichen hingezeichnet und personifiziert.
In dieser wiener Historie wird den wiener Menschen viel Bitterböses
auf eine besonders feine Art gesagt; mit jener eleganten Ueberlegenheit
eben, deren Ruhe fast schon wie Sachlichkeit wirkt.
Annäherungen der Form: Aus dieser bewegten Vielheit des Vol¬
kes wachsen die Schicksale der Einzelnen auf, werden von Liebe, Haß
und Begeisterung den Weg ihres Müssens getrieben, verschlingen sich
mannigsach miteinander und mit dem großen Schicksal, das über ihnen
hergeht. Schnitzler entwickelt das Erleben des jungen Medardus
Klähr, der in jenen kriegerischen Tagen auf der Suche nach seiner Tat
rastlos umgetrieben wird, aber, von der Unverläßlichkeit seines phan¬
tastisch überreizten Willens immer wieder genarrt, endlich nichts
andres für sich finden kann, als ein schönes und tapferes Sterben.
Schon hieraus ergibt sich wiederum der trennende Unterschied im Ge¬
halt der Stimmung von jenen andern Historien. Wenn jene drama¬
tisierte Heldengedichte sind, so zeigt diese hier mit Wissen und mit Ab¬
sicht das Drama eines Unhelden. Der menschliche Wille, diese einzig
unbedingte Voraussetzung jeder dramatischen Aktion, wird hier weg¬
geleugnet und verhöhnt. An seine Stelle tritt die bange Ungewißheit
vor dem Walten in uns und über uns. Ich=Angst und All=Angst:
unter ihren durchdringend starren Blicken ist die Figur dieses seltsamen
Menschen gebildet worden. Er ist der stets nachdenkliche Besinner un¬
getaner Taten, der Narr seiner heroischen Phantasien, die sich nur so
lange ungehemmt ausleben, als ihnen blos starke Worte entgegenstehen.
„Einer, der kaum geschaffen ist, andres zu erleben als den Klang von
Worten,“ sagt Onkel Eschenbacher von ihm; und hat recht. Aber
General Rapp schließt die Betrachtung also ab: „Mich dünkt, dieser
junge Mensch hätte an andrer Stelle stehen sollen.“ Das dünkt mich
auch; und meine bescheidene Meinung ist, daß er bestimmt war, einer
der vorzüglichsten Hofburgschauspieler zu werden. Denn sein innerstes
Wesen ist durchaus schauspielerisch.
Annäherungen der Form: In die Bewegung des Volkes und in
die Leidenskämpfe der Einzelnen sind, wie in jenen andren Historien,
mancherlei politische Intrigen eingerankt und versponnen. Aber nicht
als ein planvoll feindseliges Hinübergreifen von Willen zu Willen,
sondern, da in der Weltanschauung dieses Gedichtes das menschliche
Wollen ganz herabgedrückt und unter die blinde Gewalt des Unnenn¬
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