II, Theaterstücke 22, Der junge Medardus. Dramatische Historie in einem Vorspiel und fünf Aufzügen (Altwiener Stück, Doppelselbstmord), Seite 447

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22. Derjunge Medandus
Szene ist denn auch die stärkste unter seinen Regiekünsten. Ihre hohe
Bedeutung für den Medardus erwies sich allenthalben: sie holte aus
den bürgerlich intimen Szenen die Stimmungsreize feiner Interieurs,
sie brachte den rechten Rhythmus in die Auftritte von soldatischem An¬
klang, und sie gab noch der herzoglich Valoisschen Verschwörungs¬
spielerei eine mögliche Allüre. So gelang eine Komposition von Bil.
dern, die unauffällig ineinander übergriffen und ihre Einheii wesent¬
lich in dem gemeinsamen Zeitkolorit hatten.
Zur Nachhilfe waren ein paar distinquierte Gäste verschrieben
worden. Tilla Durieux spielte die Prinzessin, echter im Kostüm als in
der hofmäßigen Haltung; am echtesten aber im Lauern und An¬
springen der Leidenschaft, im singenden Schrei der Liebe, in allen Ur¬
lauten der sinnlich=weiblichen Natur. Frau Klähr war Alice Hetsey
aus Wien; einfach und stark, mit Tönen von Innerlichkeit, die an die
Lehmann gemahnen konnten, in den tragisch entscheidenden Momenten
ergreifend groß. Ferdinand Onno, den sie lange genug hier gehabt
haben, gastierte nun als Medardus. Er gehört — bekanntlich, wird
man bald sagen können — zur künstlerischen Progenitur von Josef
Kainz. Aus dessen überreichem Erbe verwaltet nun Moissi etwa die
prinzlichen Gebärden und das Melodische. Onno, an der Spitze der
jüngeren Linie, repräsentiert die seelische Unrast, den splitternden
Willen und alle Flackerfeuer der Neurasthenie. So waren seine schau¬
spielerischen Qualitäten in die Kontur des Medardus, dieses Helden
der Unstetigkeit, erfüllend eingepaßt; ja, sie traten stellenweise sogar
selbständig aus der vorgezeichneten Figur und sprengten den Umriß,
was die ganze Gestalt in eine recht interessante Unklarheit setzte.
Denkwürdiger noch, als diese festliche Verzierung mit fremder
Kunst, ist der ungewöhnliche Elan, in den der stürmische Eifer des Re¬
gisseurs die ganze hiesige Künstlerschaft mitzureißen vermocht hat. Man
erlebte da sehr angenehme Ueberraschungen an unvermuteten Fein¬
heiten und plötzlich aufleuchtenden Gaben. Die erfreulichste wohl an
dem braven Operetten=Papa und Possen=Thaddädl Fischer, der nun auf
einmal als sehr tüchtiger, herzenskluger, bürgerlich=heldenhafter
Eschenbacher dastand. Und so, in Abständen, auch die andern aus dem
Ensemble; fast jeder eher über seinem gewöhnlichem Maß als darunter.
Ganz kunstverlassen oder gar lächerlich war kaum einer.
Das Publikum, von der pflichtgemäßen Begeisterung der Maifest¬
spiel=Tage schon ein wenig erschöpft, hielt nur der ersten Hälfte des
Abends ruhig stand; wurde nachher verdrießlich, weil schon wieber=so
spät genachtmahlt werden mußte, genoß aber dann, als die schärfsten
Mahnungen der Essenszeit verwunden waren, mit der würdevollen
Aufmerksamkeit, die gebildeten Kleinstädtern ziemt, die Gegembart des
berühmten Dichters aus Wien.
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