II, Theaterstücke 22, Der junge Medardus. Dramatische Historie in einem Vorspiel und fünf Aufzügen (Altwiener Stück, Doppelselbstmord), Seite 505

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22. Der junge Medandus

Ausschnitt an
BERLINER TAGBLATT
an. E lteint,
ma
Zeit, unserer eigenen künstlerisch näher zu rücken. Wenn Schnitzler um
„Der junge Medardus“
Zu seinen Wienern und Wie
das Jahr 1909 diese Szenen vom Jahre 1809, aus dem Wien der zweiten
Gestalten, zu Medardus'
Von Arthur Schnitzler. Aufführung im Lessing=Theater.
napoleonischen Besetzung, aus den Tagen von Aspern und Wagram ge¬
auch schönrednerischen Etze
schrieben hat, so ist das mehr als eine gute Idee und mehr als Pietät.
Spielleitung: Diktor Barnowsky.
bacher! Und zu seiner Mutt
Was sich hier zeigt, ist herausgeholt aus dem Gewölk neu heran¬
Fünf Jahre nach seinem Entstehen wurde uns dieses dramatische
Klähr. Küssen wir ihr die
drängender Gewitter. Ein Neu=Oesterreicher schildert Alt=Oesterreich aus
Bild gezeigt, in Tagen, in der alle Räume unserer Seele für große
Barnowsky, der Spielle
dem Gefühl für die Gegenwart und Zukunft. In achtzig Bürgern
Taten und ihre Hintergründe geöffnet sind. Daß wir dem Werk und
gisseur“) hat eine sehr schn
schildert er achtzigtausend, achthunderttausend. Er sieht, selber halb ver¬
seinem Dichter, dem deutschen Dichter Arthur Schnitzler, freudig
bewältigt. Es galt in vier
zagt, die Verzagten, und richtet sich wieder an den Starken auf. Er läßt!
entgegenkommen, ist gewiß, aber vielleicht sind wir doch zu voll
selnder Szenen, Großwelt
die Raunzer raunzen, zeigt aber auch, wie sie in starken Stunden stark
von der Gegenwart, um uns in voller Ruhe in die Breite dieses
Säuselndes und Schmetter
werden. Er zeigt auf die Halben und Schwachen, die noch schwächer der kleinen Rollen, die wien
Gespinstes zu vertiefen. Den nur Genießenden gibt es jetzt nicht,
werden, auf die Sensationslüsternen, auf die Phrasenhelden, auf die Ge¬ einprägten, lag am Stück.
und es war wohl nicht genug, daß das Schauspiel Schnitzlers nur
winnsüchtigen. Gab es das alles im Jahre 1809? Es muß so gewesen
gerade ein verhallendes Echo dessen ist, was jetzt außerhalb der
auch gur in kleinen Zügen.
sein, denn das alles gibt es auch heute, gab es stets, wird es stets geben.
Theatermauern dröhnend an unser Ohr schlägt. So war die
feld, John Gottow
Und mag die Zeichnung etwas dünn und flüchtig bleiben für unsere jetzt
Wirkung nicht groß; nur wo sich aus den Worten ein stärkeres Ge¬
Senta Söneland, M
an große Eindrücke gewöhnte Einbildungskraft, so wird ihr von der Echt¬
schehen loslöste, war sie lebendiger, und erst am Schluß wurde der
Farbe und Stimme des L#
heit darum noch nichts genommen. Es war darum auch schade, daß
Name des Autors gerufen.
man seinen vollen und ernst
gestern eine der Szenen, in denen das Wienertum und ihre allgemein
Die „dramatische Historie“ hat wohl auch, in Friedenszeiten be¬
Innere des Medardus fülle
menschengültige Art von allen Seiten schnitzlerisch beglänzt werden, aus¬
fallen mußte.
trachtet, ihre Schwächen. Aber ist darüber hinaus die Stunde nicht
eine Kunst, die ihrer Natur
günstig, zu fragen: wo in den Ländern, die uns jetzt in Not und
die ihr Geschmack verlangte
Daß sich doch Arthur Schnitzler begnügt hätte! Hätte er doch ohne
Tod wünschen, wo ist unter den heute Lebenden ein Poet, zumindest
Grüning war die Mutte
den Blick auf Theaternotwendigkeiten nichts schreiben wollen, als die
ein Dramatiker, der ein Lebenswerk von so edler Gestalt und voll
mir, ganz gegen ihre Art,
Chronik einer denkwürdigen Zeit! Aber nein! Er geht auf die Suche kühl zu sein. Was Gefaß
von so echtem Menschentum aufweisen kann wie dieser erst fünfzig¬
nach „großen Charakteren“ und borgt, was er selbst nicht besitzt. Er
jährige Schnitzler und nicht viele, aber immerhin doch noch einige
Schluß war sie, um es mit
schafft den Medardus heran, der ein gesprächiger Schatten bleibt
andere, die gleich ihm in deutscher Sprache für deutsche Herzen schrei¬
unter der Fülle einer immer neu sich drehenden und komplizierten
ben? Ich frage, wo sind sie, die uns Hunnen schelten und sich dabei
Psychologie, dieser jungen Medardus der Hamlet und Fortinbras
einer reineren Kunst und einer größeren Güte rühmen dürfen?
in einer Person ist, weich und hart, biegsam, unbeugsam, bleiern und
Immer mit diesem Blick auf den großen Weltparnaß wollen
ehern und im Grunde immer nur so tut als ob. Was hilft uns der
und müssen wir jetzt Schnitzler empfinden und uns seiner freuen.
Reichtum der Züge, wenn sie keinen Organismus geben? Man kann
Wir lieben auch in diesem dramatisch formulierten Epos sein
von dieser Gestalt fast nur wie von einer Sache sprechen, von der
goethisches Deutsch mit dem wienerischen Akzent und seine lächelnde
Sache Medardus, der gegen Napoleon marschieren will und es nicht
Seele, und wenn wir offen bekennen, daß seine „großen Figuren“
tut, der sich an einer hochmütigen französischen Emigrantenfamilie
dieser junge Medardus selbst und seine weibliche Partnerin, nicht
rächen will, indem er die Tochter entehrt und sich dabei in diese?
schnitzlerisch, sondern eher Sardou=entsprungen erscheinen, so schauen
Tochter verliebt, der sich von ihr zum Mörder Napoleons
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wir doch auf die Fülle der Kleinplastik mit Dank und Freude.
ringen läßt, um sie dann selbst niederzustechen, der als
In der Tat, wir sehen zwei „Helden“, aber wir sehen in dem gestalten¬
Lebensretter Napoleons Gnade erfahren soll und schließlich einen
reichen Stück auch siebzig, achtzig wahre Menschen. Wir empfinden,
Märtyrertod ertrotzt, für den es keinen Lohn des beruhigten Gewissens
wenn wir auch nur selten in stärkere Wallung kommen, wie sie als leib¬
geben kann. Wir sehen, unbewegt, viel Bewegung und sehen Theater,
haftige Spiegelbilder des Lebens gerade jetzt, die einen abschreckend und die
und wenn dieser Medardus uns doch noch hier und dort ein wenig
anderen bezaubernd, zu uns sprechen wollen, und wir wissen auch oder
schüttelt, so ist die andere große Figur, Helene, die schöne Emigrantin,
die verführte Verführerin, die Rächerin, die treue Tochter und blasse
wir ahnen es, daß es hier nicht nur ein „glücklicher Zufall“ ist, der dem
Ränkespinnerin, überhaupt nicht mehr von dieser wirklichen Welt.
Wiener Poeten erlaubt hat, durch die Reflexo einer anderen bewegten 1 Fort von ihm und ihr! Zurück zu Schnitzler, dem Menschenformer! 1 g