Kunst. Kein Wunder, daß sie überall im Gefälligen triumphiert,
überall, wo die Geister der Ironie und der Melancholie sich ver¬
mählen. Kein Wunder aber auch, daß sie bisher noch immer vor
den Aufgaben der Tragik versagen mußte.
So waren auch die Hände des Dichters nicht stark genug, um
einen großen historischen Stoff zu packen. Die Erhebung des
Jahres 1809 gegen Napoleon trägt das Heldentum des jungen
Medardus aufwärts, nach Treitschkes Zeugnis das schönste Jahr
der österreichischen Geschichte. In ungeheurer, figurenreicher Breite
soll das Bild einer ganzen Stadt ausgerollt werden. Zwei Lebens¬
kreise stehen im Vordergrunde, von der Welt abgrundtief geschieden,
vom Drama allzu gewaltsam verknüpft. Aus dem Kleinbürgertum
stammt der frische Student Medardus, eines Sortimenters Sohn.
Zur höchsten Aristokratie gehört die Familie des französischen
Emigranten und Thronprätendenten, des Herzogs von Valois. Als
Medardus eben ins Feld rücken will, den Franzosen entgegen,
ertränkt sich seine Schwester Agathe mit dem jungen Sohn des
vertriebenen Herzogs, weil er sie nicht heiraten darf. Nun bleibt
Medardus in Wien, um der Selbstmörderin seltsame Rache zu
bereiten. Die hochmütige Prinzessin Helene, des Herzogs Tochter,
soll Agathes Schande teilen. Das tolle Unterfangen gelingt, aber
nur zur Hälfte. Wohl erobert der Student, durch ein Duell in
seiner Haltung legitimiert, das Bett einer jungen Fürstkn. Doch
von nun an ist sein Entschluß, anfangs so spannkräftig, gelähmt.
Als ein Verliebter wird er der Prinzessin hörig, und sie verwirrt
sogar seinen Plan, Napoleon zu töten, indem sie verlangt, daß er
die Tat im Interesse ihres Hauses vollbringe. Aber auch die Prin¬
zessin, die Judiths Tat an dem Franzosenkaiser erproben will,
erliegt einer lähmenden Gewalt. Sie wird Napoleons Geliebte,
und Medardus ersticht sie mit dem Dolche, der für den Eroberer
Wiens geschliffen ist. Im Kerker winkt ihm die Befreiung. Helden¬
tum und Narrentum wirbeln durcheinander, und einen Augenblick
lang glänzt Peter Schlemihls Nimbus um das Haupt des jungen
Studenten. Denn Helenes ursprüngliche Absichten gegen Napoleons
Leben sind entdeckt worden, und Medardus muß sich fast als
Erretter seines Todfeindes feiern lassen. Er rafft sich aus den
Verlockungen auf und schreitet freiwillig, als sein eigener Ankläger,
vor die Gewehre der Franzosen.
Schnitzler war nicht gut beraten, als er dieses Werk gerade unserer
kriegerischen Gegenwart anvertraute. Im Anfang, beim Auszuge
junger Soldaten, klingen zwar Töne an, die jedem Zuhörer jetzt in
vertrauter Melodie schwingen. Aber der leise Zug zum Spiele¬
rischen ist uns nun verdächtiger als in friedlichen Tagen. „Gott wollte
ihn zum Helden schaffen, der Lauf der Dinge machte einen Narren
aus ihm“, so hält sein bester Freund dem Studenten Medardus die
Leichenrede. „Das kann in solcher Zeit ein Ehrenname sein wie
ein anderer“, antwortet ihm der Vertreter der bonapartischen Autori¬
tät. Das Leben ein Spiel: eine Weisheit, die zur Stunde nicht
befriedigen mag, zur Stunde, da echtes Heldentum kein Wort, sondern
Leben und Wirklichkeit bedeutet.
Vor allem jedoch raubte man im Lessingtheater, auch wohl dem
Gebote der Stunde gehorsam, dem Werke das Beste. Schnitzler
hat rein technisch die Breite seines Stoffes nicht bewältigen kön¬
nen. Aber die lokalen Episoden bringen die frischesten Farben
ins Bild. Episoden, die zum großen Teil gestern gestrichen waren.
Sie bedeuten zumeist keine Komplimente für die Wiener, für ihren
Mangel an Ernst, für ihre Sucht, im Gewaltigen noch die Zer¬
streuung, die „Hetz“ zu suchen. Aber auch sie sind die Herzens¬
entladung eines guten Wieners, wie Schnitzlers „Weg ins Freie“
die Erleichterung eines getreuen Juden darstellte. Von der Folie
der Spießbürger hebt sich ja deutlich genug der österreichische
Märtyrer, Meister Eschenbacher, ab, der scheinbar kühle, von keiner
Phrase benebelte Patriot.
Im unbarmherzigen Rampenlichte erschienen gestern die Szenen
im Emigrantenkreise doppelt grell, schmerzlich theatralisch. Eine
Romanfigur wie die Prinzessin Helene, so primitiv als Vampyr
charakterisiert, verlor zudem durch die Streichungen allmählich jede
Fühlung mit dem Publikum. Seltsamerweise lag gerade hier der
schauspielerische Gewinn des Abends. Denn Lina Lossen trotzte
ihrer Natur die erstaunliche Fertigkeit ab, eine ausgesprochene
Durieux=Rolle vortrefflich zu spielen.
Kälte bei wildem Blut mit Hochmut gepaart: so beherrschte sie als
eine Starke die schwächsten Szenen des zerflatternden Dramas. Sie
hatte eine doppelte Hemmung zu überwinden. Denn ihr Partner
konnte ihren Eifer fürwahr nicht beflügeln. Der Medardus des Herrn
Theodor Loos war nämlich ein Kopfhänger, ein Dekadent, ein
Nervenbündel ohne jenen Fonds von Jugend und Frische, der allein
Schnitzlers Mängel hätte ausgleichen können. Für Meister Eschen¬
bacher wäre wohl Kayßler der rechte Mann gewesen, der nun in
barscher Wucht Napoleons Stellvetreter auf den Brettern sein mußte.
In den Bürgerszenen erwarben sich Ilka Grüning, Abel und
Herzfeld Verdienste. Aber die Stimme der Stadt Wien, der
eigentlichen Heldin der Schauspiels, konnte Barnowskys Regie nicht
heraufbeschwören. Sie schien ihre beste Kraft bereits in er zweiten
Szene, beim Abschiedsfest der ins Feld rückenden Freiwilligen, aus¬
gegeben zu haben.
M. J.
Ausschnitt aus:
To OkfoBER 1917
vom:
Cheater und Konzerte
Das Lessingtheater brachte am Samstag abend Arthur
Schnitzlers dramatische Historie „Der junge Medardus“ in Ver¬
Wanf die Bühne. Dier Jahre alt ist das
Stück, ursprünglich wohl geducht als ein Beitrag des Wiener
Dichters zu der Hundertjahrfeier von 1809, wo Oesterreich
seinen Krieg mit Napoleon führte, ohne dem großen Korsen
den entscheidenden Schlag beibringen zu können, den man im
Jahre 1806 versäumt hatte. Eine dramatische Historie nennt
sich das Stück, und es ist in der Tat ein Zeitbild voll
historischen Kolorits, ist dramatisierte Historie. Nur geht
Schnitzler mit der Geschichte anders um, als es sonst die Ver¬
fasser geschichtlicher Dramen zu tun pflegen. Er gestaltet nicht
das Tun und Lassen eines „Helden“ nach der üblichen Weise,
vielmehr sucht er die Stimmung des ganzen Volkes, ganz Wien
in allen seinen Gesellschaftsschichten und in allen Ständen zu
schildern und aus der Darstellung den Verlauf der Ereignisse
zu erklären.
Dieser ursprüngliche und wirklich geniale Plan — das Wort
genial paßt sonst auf Schnitzlers Schaffen keineswegs — mußte
auf irgend eine Weise Fleisch und Bein gewinnen, wenn er
nicht einfach eine Erzählung von Napoleons Siegeszug werden
sollte. In der Ausführung der Idee aber zeigt sich Schnitzler
als der Novellist, als der Dramatiker der kleinen seinen, psycho¬
logisch durchgearbeiteten Episode. So groß er sich von dem üb¬
lichen Napoleondrama mit Geschützdonner und Pankenkrach
fernhält, so bescheiden ist er in dem, was er eigentlich auf der
Bühne vorführt. Von Nupoleon und seinem Siege handelt das
Stück — seine Bewegung, sein Leben aber erhält es von einer
Liebes= und Intrigantengeschichte. Der junge Medardus, der
Buchhändlerssohn, zerflattert den großen Vorsatz, mit dem
Heere gegen den Feind zu gehen, in dem Augenblick in die
Winde, weil er zwischen Haß und Liebe hin= und herschwankt;
sein Verderben ist eine Prinzessin von Valois, dexen Bruder
Franz die eigene Schwester des jungen „Helden“ mit sich in
den Tod genommen hat. Am Grabe sah Medardus die Prin¬
zessin Helene zum erstenmal. Er haßte sie, blutete
um dieses Hasses willen
einem Duell
und
muß sich schließlich doch von Liebe zu ihr überwältigt sehen.
Aber die stolze Prinzessin will mehr als Liebe. Sie hofft den
jungen Medardus zum Morde des inzwischen in Schönbrunn
weilenden Kaiser Napoleon bewegen zu können. Medardus hat
selbst diesen Plan schon erwogen gehabt. Aber da er nun
Wertzeug der Valois, der alten Gegner der Republik sein soll,
ekelt ihn die Tat an, und er ermordet in einer Auswallung &
seines Herzens die Prinzessin, gerade als diese selbst auf dem
Wege ist, Napolcons Siegeslauf mit dem Dolch zu beenden.
Im Gefängnis fühnt Medardus seine zwiefache Schuld, die
gegen das Vaterland durch ein offenes Geständnis seines An¬
schlages gegen Napoleon, die gegen die Valois durch den Tod,
den ihm Napoleons Adjutant General Rapp als hartnäckigem
Feinde diktiert. Zwischen diese vielfältigen Handlungen schiebt
sich die eines echten Patrioten, des Sattlermeisters Jakob
Eschenmacher, der, ein Oheim des jungen Medardus, als Opfer
seiner Vaterlandsliebe fällt. Das Ganze ist umwoben von un¬
zähligen Szenen, die das Wiener Bürgectum zu Napoleons
Zeit und wohl auch noch ein Jahrhundert später schildern.
Alles Einzelne ist da ebensogul beobachtet wie novellistisch sein
herausgearbeitet. Viel Leben breitet sich in den Bildern aus,
und aus dem Leben wachsen einzelne Figuren zu persönlicher.
Bedeutung. So der eben genannte Eschenbacher, oder Karl
Etzelt, der großdenkende Geschäftsleiter der Buchhandlung.
oder der geschwätzig neugierige Drechslermeister Berger. Auch
die Hauptpersonen des Stückes haben viel Leben und viel
Wahrheit, so der Herzog von Valois und vor allem Helene,
die Schmalheit des Ausgeführten nur schwer vergessen. Um
sie unzweifelhaft hinterlassen, macht die Größe des Planes und
die Schmeichelheit des Ausgeführten nur schwer vergessen. Um
so schwerer, als doch Schnitzler bei seiner Schilderung des
Wienerischen Oesterreich vieles Aeußerliche ausgezeichnet be¬
merkt und geschildert, nicht aber die in unserer Zeit erwiesenen
Fähigkeiten kraftvollen Aufschwungs vorausgeahnt hat.
Der Umfang des Werkes veranlaßte die Regie, die Victor
Barnowsky selbst mit sicherer Hand führte, zu energischen
Strichen. Der Rotstift hat das Gerippe der Handlung natür¬
lich stehen lassen und nach theatralischen Gesichtspunkten von
dem poetischen Fleisch nur das genommen, was nicht entbehr¬
lich schien. Dadurch hat sich der Eindruck des Stückes ein
wenig zu des Dichters Ungunsten verschoben, der Novellist und
Schilderer ist ein wenig gewaltsam zum starken Dramatiker
gepreßt worden. Vielleicht geht es mit dem „Jungen Me¬
dardus“ so wie mit Ibsen, daß man nämlich nach und nach
noch einiges aus dem breiten Text nachträglich wieder einfügt,
was bei der Premièxre aufzuführen aus praktischen Gründen
untunlich erschien.
Die Aufführung erwies in ihrem Ernst und ihrer Kraft,
daß man sich alle Mühe gegeben, mehr als ein Schaustück
herauszustellen. Zwar vermochte Theodor Loos dem jungen
Medardus weder die Feuerseele eines Retters des Vaterlandes
zu geben, noch den romantischen Widerstreit zwischen Liebe
und Haß mehr als äußerlich darzustellen. Dafür versieh Lina
Losson der Prinzessin Helene Kraft, Innerlichkeit und Hoheit,
vielleicht aber zu viel Reinheit und Geradheit. Sie war
„jeder Zoll eine Königin“ nicht aber eine intrigierende
Thronprätendentin, die mit niederen Mitteln zu arbeiten
weiß. Ganz im Sinne des hohei'svollen Entthronten spielte
Mar Lande den alten O##.„
und
mit 1#
überall, wo die Geister der Ironie und der Melancholie sich ver¬
mählen. Kein Wunder aber auch, daß sie bisher noch immer vor
den Aufgaben der Tragik versagen mußte.
So waren auch die Hände des Dichters nicht stark genug, um
einen großen historischen Stoff zu packen. Die Erhebung des
Jahres 1809 gegen Napoleon trägt das Heldentum des jungen
Medardus aufwärts, nach Treitschkes Zeugnis das schönste Jahr
der österreichischen Geschichte. In ungeheurer, figurenreicher Breite
soll das Bild einer ganzen Stadt ausgerollt werden. Zwei Lebens¬
kreise stehen im Vordergrunde, von der Welt abgrundtief geschieden,
vom Drama allzu gewaltsam verknüpft. Aus dem Kleinbürgertum
stammt der frische Student Medardus, eines Sortimenters Sohn.
Zur höchsten Aristokratie gehört die Familie des französischen
Emigranten und Thronprätendenten, des Herzogs von Valois. Als
Medardus eben ins Feld rücken will, den Franzosen entgegen,
ertränkt sich seine Schwester Agathe mit dem jungen Sohn des
vertriebenen Herzogs, weil er sie nicht heiraten darf. Nun bleibt
Medardus in Wien, um der Selbstmörderin seltsame Rache zu
bereiten. Die hochmütige Prinzessin Helene, des Herzogs Tochter,
soll Agathes Schande teilen. Das tolle Unterfangen gelingt, aber
nur zur Hälfte. Wohl erobert der Student, durch ein Duell in
seiner Haltung legitimiert, das Bett einer jungen Fürstkn. Doch
von nun an ist sein Entschluß, anfangs so spannkräftig, gelähmt.
Als ein Verliebter wird er der Prinzessin hörig, und sie verwirrt
sogar seinen Plan, Napoleon zu töten, indem sie verlangt, daß er
die Tat im Interesse ihres Hauses vollbringe. Aber auch die Prin¬
zessin, die Judiths Tat an dem Franzosenkaiser erproben will,
erliegt einer lähmenden Gewalt. Sie wird Napoleons Geliebte,
und Medardus ersticht sie mit dem Dolche, der für den Eroberer
Wiens geschliffen ist. Im Kerker winkt ihm die Befreiung. Helden¬
tum und Narrentum wirbeln durcheinander, und einen Augenblick
lang glänzt Peter Schlemihls Nimbus um das Haupt des jungen
Studenten. Denn Helenes ursprüngliche Absichten gegen Napoleons
Leben sind entdeckt worden, und Medardus muß sich fast als
Erretter seines Todfeindes feiern lassen. Er rafft sich aus den
Verlockungen auf und schreitet freiwillig, als sein eigener Ankläger,
vor die Gewehre der Franzosen.
Schnitzler war nicht gut beraten, als er dieses Werk gerade unserer
kriegerischen Gegenwart anvertraute. Im Anfang, beim Auszuge
junger Soldaten, klingen zwar Töne an, die jedem Zuhörer jetzt in
vertrauter Melodie schwingen. Aber der leise Zug zum Spiele¬
rischen ist uns nun verdächtiger als in friedlichen Tagen. „Gott wollte
ihn zum Helden schaffen, der Lauf der Dinge machte einen Narren
aus ihm“, so hält sein bester Freund dem Studenten Medardus die
Leichenrede. „Das kann in solcher Zeit ein Ehrenname sein wie
ein anderer“, antwortet ihm der Vertreter der bonapartischen Autori¬
tät. Das Leben ein Spiel: eine Weisheit, die zur Stunde nicht
befriedigen mag, zur Stunde, da echtes Heldentum kein Wort, sondern
Leben und Wirklichkeit bedeutet.
Vor allem jedoch raubte man im Lessingtheater, auch wohl dem
Gebote der Stunde gehorsam, dem Werke das Beste. Schnitzler
hat rein technisch die Breite seines Stoffes nicht bewältigen kön¬
nen. Aber die lokalen Episoden bringen die frischesten Farben
ins Bild. Episoden, die zum großen Teil gestern gestrichen waren.
Sie bedeuten zumeist keine Komplimente für die Wiener, für ihren
Mangel an Ernst, für ihre Sucht, im Gewaltigen noch die Zer¬
streuung, die „Hetz“ zu suchen. Aber auch sie sind die Herzens¬
entladung eines guten Wieners, wie Schnitzlers „Weg ins Freie“
die Erleichterung eines getreuen Juden darstellte. Von der Folie
der Spießbürger hebt sich ja deutlich genug der österreichische
Märtyrer, Meister Eschenbacher, ab, der scheinbar kühle, von keiner
Phrase benebelte Patriot.
Im unbarmherzigen Rampenlichte erschienen gestern die Szenen
im Emigrantenkreise doppelt grell, schmerzlich theatralisch. Eine
Romanfigur wie die Prinzessin Helene, so primitiv als Vampyr
charakterisiert, verlor zudem durch die Streichungen allmählich jede
Fühlung mit dem Publikum. Seltsamerweise lag gerade hier der
schauspielerische Gewinn des Abends. Denn Lina Lossen trotzte
ihrer Natur die erstaunliche Fertigkeit ab, eine ausgesprochene
Durieux=Rolle vortrefflich zu spielen.
Kälte bei wildem Blut mit Hochmut gepaart: so beherrschte sie als
eine Starke die schwächsten Szenen des zerflatternden Dramas. Sie
hatte eine doppelte Hemmung zu überwinden. Denn ihr Partner
konnte ihren Eifer fürwahr nicht beflügeln. Der Medardus des Herrn
Theodor Loos war nämlich ein Kopfhänger, ein Dekadent, ein
Nervenbündel ohne jenen Fonds von Jugend und Frische, der allein
Schnitzlers Mängel hätte ausgleichen können. Für Meister Eschen¬
bacher wäre wohl Kayßler der rechte Mann gewesen, der nun in
barscher Wucht Napoleons Stellvetreter auf den Brettern sein mußte.
In den Bürgerszenen erwarben sich Ilka Grüning, Abel und
Herzfeld Verdienste. Aber die Stimme der Stadt Wien, der
eigentlichen Heldin der Schauspiels, konnte Barnowskys Regie nicht
heraufbeschwören. Sie schien ihre beste Kraft bereits in er zweiten
Szene, beim Abschiedsfest der ins Feld rückenden Freiwilligen, aus¬
gegeben zu haben.
M. J.
Ausschnitt aus:
To OkfoBER 1917
vom:
Cheater und Konzerte
Das Lessingtheater brachte am Samstag abend Arthur
Schnitzlers dramatische Historie „Der junge Medardus“ in Ver¬
Wanf die Bühne. Dier Jahre alt ist das
Stück, ursprünglich wohl geducht als ein Beitrag des Wiener
Dichters zu der Hundertjahrfeier von 1809, wo Oesterreich
seinen Krieg mit Napoleon führte, ohne dem großen Korsen
den entscheidenden Schlag beibringen zu können, den man im
Jahre 1806 versäumt hatte. Eine dramatische Historie nennt
sich das Stück, und es ist in der Tat ein Zeitbild voll
historischen Kolorits, ist dramatisierte Historie. Nur geht
Schnitzler mit der Geschichte anders um, als es sonst die Ver¬
fasser geschichtlicher Dramen zu tun pflegen. Er gestaltet nicht
das Tun und Lassen eines „Helden“ nach der üblichen Weise,
vielmehr sucht er die Stimmung des ganzen Volkes, ganz Wien
in allen seinen Gesellschaftsschichten und in allen Ständen zu
schildern und aus der Darstellung den Verlauf der Ereignisse
zu erklären.
Dieser ursprüngliche und wirklich geniale Plan — das Wort
genial paßt sonst auf Schnitzlers Schaffen keineswegs — mußte
auf irgend eine Weise Fleisch und Bein gewinnen, wenn er
nicht einfach eine Erzählung von Napoleons Siegeszug werden
sollte. In der Ausführung der Idee aber zeigt sich Schnitzler
als der Novellist, als der Dramatiker der kleinen seinen, psycho¬
logisch durchgearbeiteten Episode. So groß er sich von dem üb¬
lichen Napoleondrama mit Geschützdonner und Pankenkrach
fernhält, so bescheiden ist er in dem, was er eigentlich auf der
Bühne vorführt. Von Nupoleon und seinem Siege handelt das
Stück — seine Bewegung, sein Leben aber erhält es von einer
Liebes= und Intrigantengeschichte. Der junge Medardus, der
Buchhändlerssohn, zerflattert den großen Vorsatz, mit dem
Heere gegen den Feind zu gehen, in dem Augenblick in die
Winde, weil er zwischen Haß und Liebe hin= und herschwankt;
sein Verderben ist eine Prinzessin von Valois, dexen Bruder
Franz die eigene Schwester des jungen „Helden“ mit sich in
den Tod genommen hat. Am Grabe sah Medardus die Prin¬
zessin Helene zum erstenmal. Er haßte sie, blutete
um dieses Hasses willen
einem Duell
und
muß sich schließlich doch von Liebe zu ihr überwältigt sehen.
Aber die stolze Prinzessin will mehr als Liebe. Sie hofft den
jungen Medardus zum Morde des inzwischen in Schönbrunn
weilenden Kaiser Napoleon bewegen zu können. Medardus hat
selbst diesen Plan schon erwogen gehabt. Aber da er nun
Wertzeug der Valois, der alten Gegner der Republik sein soll,
ekelt ihn die Tat an, und er ermordet in einer Auswallung &
seines Herzens die Prinzessin, gerade als diese selbst auf dem
Wege ist, Napolcons Siegeslauf mit dem Dolch zu beenden.
Im Gefängnis fühnt Medardus seine zwiefache Schuld, die
gegen das Vaterland durch ein offenes Geständnis seines An¬
schlages gegen Napoleon, die gegen die Valois durch den Tod,
den ihm Napoleons Adjutant General Rapp als hartnäckigem
Feinde diktiert. Zwischen diese vielfältigen Handlungen schiebt
sich die eines echten Patrioten, des Sattlermeisters Jakob
Eschenmacher, der, ein Oheim des jungen Medardus, als Opfer
seiner Vaterlandsliebe fällt. Das Ganze ist umwoben von un¬
zähligen Szenen, die das Wiener Bürgectum zu Napoleons
Zeit und wohl auch noch ein Jahrhundert später schildern.
Alles Einzelne ist da ebensogul beobachtet wie novellistisch sein
herausgearbeitet. Viel Leben breitet sich in den Bildern aus,
und aus dem Leben wachsen einzelne Figuren zu persönlicher.
Bedeutung. So der eben genannte Eschenbacher, oder Karl
Etzelt, der großdenkende Geschäftsleiter der Buchhandlung.
oder der geschwätzig neugierige Drechslermeister Berger. Auch
die Hauptpersonen des Stückes haben viel Leben und viel
Wahrheit, so der Herzog von Valois und vor allem Helene,
die Schmalheit des Ausgeführten nur schwer vergessen. Um
sie unzweifelhaft hinterlassen, macht die Größe des Planes und
die Schmeichelheit des Ausgeführten nur schwer vergessen. Um
so schwerer, als doch Schnitzler bei seiner Schilderung des
Wienerischen Oesterreich vieles Aeußerliche ausgezeichnet be¬
merkt und geschildert, nicht aber die in unserer Zeit erwiesenen
Fähigkeiten kraftvollen Aufschwungs vorausgeahnt hat.
Der Umfang des Werkes veranlaßte die Regie, die Victor
Barnowsky selbst mit sicherer Hand führte, zu energischen
Strichen. Der Rotstift hat das Gerippe der Handlung natür¬
lich stehen lassen und nach theatralischen Gesichtspunkten von
dem poetischen Fleisch nur das genommen, was nicht entbehr¬
lich schien. Dadurch hat sich der Eindruck des Stückes ein
wenig zu des Dichters Ungunsten verschoben, der Novellist und
Schilderer ist ein wenig gewaltsam zum starken Dramatiker
gepreßt worden. Vielleicht geht es mit dem „Jungen Me¬
dardus“ so wie mit Ibsen, daß man nämlich nach und nach
noch einiges aus dem breiten Text nachträglich wieder einfügt,
was bei der Premièxre aufzuführen aus praktischen Gründen
untunlich erschien.
Die Aufführung erwies in ihrem Ernst und ihrer Kraft,
daß man sich alle Mühe gegeben, mehr als ein Schaustück
herauszustellen. Zwar vermochte Theodor Loos dem jungen
Medardus weder die Feuerseele eines Retters des Vaterlandes
zu geben, noch den romantischen Widerstreit zwischen Liebe
und Haß mehr als äußerlich darzustellen. Dafür versieh Lina
Losson der Prinzessin Helene Kraft, Innerlichkeit und Hoheit,
vielleicht aber zu viel Reinheit und Geradheit. Sie war
„jeder Zoll eine Königin“ nicht aber eine intrigierende
Thronprätendentin, die mit niederen Mitteln zu arbeiten
weiß. Ganz im Sinne des hohei'svollen Entthronten spielte
Mar Lande den alten O##.„
und
mit 1#