II, Theaterstücke 22, Der junge Medardus. Dramatische Historie in einem Vorspiel und fünf Aufzügen (Altwiener Stück, Doppelselbstmord), Seite 509

vielmehr sucht er die Stimmung des ganzen Volkes, ganz Wien
in allen seinen Gesellschaftsschichten und in allen Ständen zu
schildern und aus der Darstellung den Verlauf der Ereignisse
zu erklären.
Dieser ursprüngliche und wirklich geniale Plan —— das Wort
genial paßt sonst auf Schnitzlers Schafsen keineswegs — mußte
auf irgend eine Weise Fleisch und Bein gewinnen, wenn er
nicht einsach eine Erzählung von Napoleons Siegeszug werden
sollte. In der Ausführung der Idee aber zeigt sich Schnitzler
als der Novellist, als der Dramatiker der kleinen seinen, psycho¬
logisch durchgearbeiteten Episode. So groß er sich von dem üb¬
lichen Napoleondrama mit Geschützdonner und Pankentrach
fernhält, so bescheiden ist er in dem, was er eigentlich auf der
Bühne vorführt. Von Napoleon und seinem Siege handelt das
Stück — seine Bewegung, sein Leben aber erhält es von einer
Liebes= und Intrigantengeschichte. Der junge Medardus, der
Buchhändlerssohn, zerflattert den großen Vorsatz, mit dem
Heere gegen den Feind zu gehen, in dem Augenblick in die
Winde, weil er zwischen Haß und Liebe hin= und herschwankt;
sein Verderben ist eine Prinzessin von Valois, dexen Bruder
Fran die eigene Schwester des jungen „Helden“ mit sich in
den Tod genommen hat. Am Grabe sah Medardus die Prin¬
zessin Helene zum erstenmal. Er haßte sie,
blutele
um dieses Hasses
willen in einem Duell
und
muß sich schließlich doch von Liebe zu ihr überwältigt sehen.
Aber die stolze Prinzessin will mehr als Liebe. Sie hofft den
jungen Medardus zum Morde des inzwischen in Schönbrunn
weilenden Kaiser Napoleon bewegen zu können. Medardus hat
selbst diesen Plan schon erwogen gehabt. Aber da er unn
Werkzeug der Valois, der alten Gegner der Republik sein soll,
ekelt ihn die Tat an, und er ermordet in einer Auswaltung
seines Herzens die Prinzessin, gerade als diese selbst auf dem
Wege ist, Napoleons Siegeslauf mit dem Dolch zu beenden.
Im Gefängnis fühnt Medardus seine zwiefache Schuld, die
gegen das Vaterland durch ein offenes Geständnis seines An¬
schlages gegen Napoleon, die gegen die Valois durch den Tod,
den ihm Napoleons Adjutant General Rapp als hartnäckigem
Feinde diktiert. Zwischen diese vielfältigen Handlungen schiebt
sich die eines echten Patrioten, des Sattlermeisters Jalob
Eschenmacher, der, ein Oheim des jungen Medardus, als Opfer
seiner Vaterlandsliebe fällt. Das Ganze ist umwoben von un¬
zähligen Szenen, die das Wiener Bürgertum zu Napoleons
Zeit und wohl auch noch ein Jahrhundert später schildern.
Alles Einzelne ist da ebensogut beobachtet wie novellistisch sein
herausgearbeitet. Viel Leben breitet sich in den Bildern aus,
und aus dem Leben wachsen einzelne Figuren zu persönlicher¬
Bedeutung. So der eben genannte Eschenbacher, oder Karl
Etzelt, der großdenkende Geschäftsleiter der Buchhandlung.
oder der geschwätzig neugierige Drechslermeister Berger. Auch
die Hauptpersonen des Stückes haben viel Leben und viel
Wahrheit, so der Herzog von Valois und vor allem Helene,
die Schmalheit des Ausgeführten nur schwer vergessen. Um
sie unzweifelhaft hinterlassen, macht die Größe des Planes und
die Schmeichelheit des Ausgeführten nur schwer vergessen. Um
so schwerer, als doch Schnitzler bei seiner Schilderung des
Wienerischen Oesterreich vieles Aeußerliche ausgezeichnet be¬
merkt und geschildert, nicht aber die in unserer Zeit erwiesenen
Fähigkeiten kraftvollen Aufschwungs vorausgeahnt hat.
Der Umfang des Werkes veranlaßte die Regie, die Victor
Barnowsky selbst mit sicherer Hand führte, zu energischen
Strichen. Der Rotstift hat das Gerippe der Handlung natür¬
lich stehen lassen und nach theatralischen Gesichtspunkten von
dem poetischen Fleisch nur das genommen, was nicht entbehr¬
lich schien. Dadurch hat sich der Eindruck des Stückes ein
wenig zu des Dichters Ungunsten verschoben, der Novellist und
Schilderer ist ein wenig gewaltsam zum starken Dramatiker
gepreßt worden. Vielleicht geht es mit dem „Jungen Me¬
dardus“ so wie mit Ibsen, daß man nämlich nach und nach
noch einiges aus dem breiten Text nachträglich wieder einfügt,
was bei der Premièxe aufzuführen aus prattischen Gründen
untunlich erschien.
Die Aufführung erwies in ihrem Ernst und ihrer Kraft,
daß man sich alle Mühe gegeben, mehr als ein Schaustück
herauszustellen. Zwar vermochte Theodor Loos dem jungen
Medardus weder die Feuerseele eines Retters des Vaterlandes
zu geben, noch den romantischen Widerstreit zwischen Liebe
und Haß mehr als äußerlich darzustellen. Dafür verlieh Lina
Losson der Prinzessin Helene Kraft, Innerlichkeit und Hoheit,
vielleicht aber zu viel Reinheit und Geradheit. Sie war
„jeder Zoll eine Königin“ nicht aber eine intrigierende
Thronprätendentin, die mit niederen Mitteln zu arbeiten
weiß. Ganz im Sinne des hoheitsvollen Entthronten spielte
Max Lande den alten Herzog und mit tiefer, echter Mütter¬
lichkeit Ilta Grüning die Mutter des Medardus. Von anderen
hervorragenden Leistungen muß Heinz Salfners tiefsympathi¬
sche Wiedergabe des Eschenbacher und Alfred Abels Dar¬
stellung des Etzelt genannt werden. Mit vielem Geschick mimte
Guido Herzfeld den Drechslermeister Berger. Dagegen ver¬
sagte Senta Söneland als dessen Frau in Maske und Spiel
vollkommen. In den Rollen des Geuerals Rapp und des
„uralten Herrn“ gaben Kayßler und Kurt Götz zugleich
energisch und seinabgestimmte Episoden. Die szenischen Bilder
nach Entwürfen von Karl Walser waren durchweg trefflich;
die ganze Aufführung verdient lebhaftes Interesse, wenn sie
auch ganz zweifellos manche Schattenseiten aufweist, davon
ein großer Teil im Stück selbst begründet ist.
Dr. Thyssen. )
Ausschnitt aus:
## #r gflstsee zeitung, Steitin
vom:
Berliner Erstaufführung.
Aus Berlin wird uns geschrieben: Das schon vor Jahren
entstandene und wiederholt aufgeführte Drama „Der junge
Medardus“ von Artur Schnitzler wurde am Sonnabend
in Berlin, trotzdem de#####in die Zeit des zweiten
Einzugs Napoleons in Wien verlegte, sehr umständliche Hand¬
lung der Stimmung der Stunde sehr entgegenzukommen schien,
mit viel geringerer Wärme aufgenommen, als bei seiner Wiener
Uraufführung. Das Lessingtheater hatte diesen dickbändigen ver¬
koppten Roman, den Schnitzler selbst eine „dramatische Historie
in einem Vorspiel und fünf Akten nennt, sehr wesentlich zu¬
sammengestrichen und auch von den etwa hundert Personen, die
da auftreten sollen, eine ganze Schar geopfert. Dennoch währte
die Aufführung von 7 Uhr bis gegen Mitternacht, und es schälte
sich, dem wütenden Blaustift zum Trotz, doch kein klarer und kein
fester Kern heraus. Gar zu kraus sind die Schicksale der Bürger
Wiens, mit denen der Familie des närrischen Herzogs von Valois
verstrickt, der seine schwach begründeten Ansprüche auf, die Krone
Frankreichs gegen einen Bonaparte behaupten will. Eine allzu
weichliche Romantik drängt sich in das eiserne Regiment Napo¬
leons, der in einer opernhaft aufgebauten Schönbrunner Szene
beinahe in Person erscheint. Gar zu widerspruchsvoll ist diese
Herzogstochter, die selbst am Grabe ihres Bruders, der mit einem
Bürgermädchen den Tod gesucht hat, starr und stolz einen so
kleinen Selbstmord hoffnungsloser Liebe gegen die Erhabenheit
der Thronansprsche ihres Geschlechts abwägt und gleich darauf
nach einem von ihr selbst entfesselten Theaterduell ihres Vewer¬
ders gegen den achtungheischenden Bruder der Toten, diesen
Bruder, Msdardus, in ihre Nähe lockt und in wilder Leidenschaft
gefangen hält. Am widerspruchsvollsten ist aber Medardus
selbst, der seinen Napoleonhaß an der Bahre der Schwester sofort
vergißt, sehr unklare Nachegedanken hegt, diese in den Armen der
Prinzessin bald aufgibt, bald wieder hochflackern läßt, den gegen
Napoleon gezückten Dolch in plötzlicher Eifersucht der Geliebten
ins Herz stößt. Noch in seiner letzten Stunde weißr selbst nicht
recht und läßt er auch uns im Zweifel darüber, ob sein gegen die
Gnade Napoleons ertrotzter Opfertod dem Vaterlande (dem er
nicht nützen kann) oder der erotiichen Enttäuschung eines Jüng¬
lings galt, der immer mit seinem Leben gespielt hat. Die mit
größter Sorgfalt vorbereitete und im ganzen vortreffliche Auf¬
führung konnte die Verschwommenheit und Zwitterhaftigkeit der
Dichtung nicht überwinden und trug dem anwesenden Poeten erst
am Schlusse den Beifall seiner Freunde ein, die ihn begrüßen d
wollten.