II, Theaterstücke 22, Der junge Medardus. Dramatische Historie in einem Vorspiel und fünf Aufzügen (Altwiener Stück, Doppelselbstmord), Seite 518

22. DerjungeMadarans
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Zeitung: Königsberg. Hartungsche Zeitung
Adresse: Königsberg i. Pr.
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Aufzügen dramatisiert. Ohne hundert kleine Genrebilder zu merzen,
Der Narr des Schicksals.
die den straffen Gang des Geschehens und den Zwang der Personen
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aufhalten, ersticken. Die Wiener von 1809 und 1909 leben in ihrer
Berlin, Oktober.
Behäbigkeit, Schwatzflicht. Ehrenfestigkeit, Spießerei, Liebelei, Ober=
Arkur Schnitzler schuf uns einen langen Theaterabend
flächenkultur und Backhändellust treulich vor uns. Sie sind der
von fünf Stunden; dochsein „Junger Medardus“ im
Held die handelnde und leidende Hauptperson; Medardus kann
Lessingtheater (mie70 Personen im Spielplan) war zwar
herausfallen, ohne daß die 250 Druckseiten auf der Bühne ihrend.
fein, geistreich, nachdeuhsam, aber kein Held von 1914 oder nur
Halt einbüßen. Ein Denkmal ersteht vor uns, komponiert aus vielen
von 1809. Medardus sucht in sich den Helden, er schaut nach seiner
sprechenden Symbolfiguren und allegorischen Motiven — der Sockel
heroischen Tat aus, die dem eigenen vaterländischen Herzen und der
nur blieb leer.
patriotischen Zeit genug täte in der Befreiung des Heimatbodens
In vierzehn Bilder sucht Direklor Barnowsky das vielstrahlige
vom schweren Tritte des Korsen: doch sein Wille zur Tat ist nur
Bild der ernsthaft glücklichen Wiener Franzosenzeit einzufangen; ein
Vorstellung; sein Arm hängt schlaff herab, er ist ein schief gewickelter
Drittel der ungemein sorgsamen Arbeit Schnitzlers verfiel der Kür¬
Held, ein Narr des Schicksals ein Zweiseelenmensch.
zung, die wohl kaum schonender und geschickter vorgehen konnte,
Sein körperlich verkrüppelter, doch mit heiler Seele dem Sinn
sollte der Rahmen des Theaterabends gewahrt bleiben. Unser Herz
der Welt nachspürender aufrichtiger Freund Etzelt will nicht die
erobert sich weder Medardus noch sein Dichter; wir sind heute um¬
Führer im Kriege bewundern, denen die leuchtenden Blicke aller
ringt von Helden und bedrängt und geschüttelt von der gewaltigen
folgen und die von der winkenden Unsterblichkeit gerusen werden,
Gegenwart, die uns ganz ausfüllt mit zitternder Seligkeit —
vielmehr sein Haupt vor denen neigen, die zu Hunderttausenden be= das sind nicht Tage für Mehlspeis; Kommisbrot woll'n wir kauen!
reit sind, namenlos mit tausend anderen Namenlosen in ein früyes Der Mut vor seiner eigenen Courage geht dem Helden
Grab zu sinken, oder aus Gefahr und Pein schlecht belohnt in die aus Papiermuché und Stiefkinde Gottes ab; erst in
seiner
ruhmlose Dämmerung des Alltags hineinzuschleichen. „Einen Früh= Sterbestunde in der Zelle, da er sein nacktes Dasein retten kann
ling säen, von dem keine Blüten euch zieren und dessen Duft viel¬
und sich stolz vor die feindliche Kugel stellt, trotz Mutter
leicht nur über eure Gräber streichen wird, das scheint mir groß.“
und Freund und Sonnenschein, erst ganz zuletzt reichen wir
Medardus ist nicht so namenlos bescheiden gesinnt: im Winkel seiner dem Zauderer, Irrfahrer und in der Anlage schon verpfuschten
Seele flimmert der Wunsch nach sieghaftem Frühling, und seinen! Lebenskünstler versöhnt die Hand, wie Napoleons eisenfester General
rötesten Blütenkranz will er sich auf die Stirn drücken! Er will; er
Rapp. als er dem Gensdarmerieleutnant den Delinquenten zur
kann's nicht. In seiner Brust brennt wohl der heilige Zorn gegen Napo¬
Füsilierung übergibt. Peinlich bedrückt die Stilbrüchigkeit
leon, seines Oesterreichs Unterjocher — doch anderes Feuer schwelt daneben.
des breiten Stückes; an diesem Herzklappenfehler geht es ein:
Zerrissen durch seine Vielspältigkeit geht der redliche Woller schwäch¬
Realismus und Romantik. Wirklichkeit und Allegorie darf man nicht
ich ein. Den Korsen gedachte er zu erdolchen — die Waffe trug er
also verquicken. Vortrefflich ist der kerntüchtige Bürger Eschenbacher
als gedungener Handlanger eines schönen Weibes; diese ersticht er,
von Heinz Salfner, ebenso Kayßlers General Rapp. zwei
weil sie des Kaisers Geliebte ward — er stahl sich in ihren Garten
vollsastige Gestalten in köstlicher Reife. Lina Lossen als rächende,
und in ihr Bett. um seine Schwester zu rächen, der die aristokrati= kaltrechnende Adelstochter mit Haus= und Herzenspolitik bietet eine ##
schen Eltern der Helene von Valois die Liebesheirat weigerten mit herbe Schönheit der Leistung, Theodor Loos als Medardus
ihrem unwillig um den Thron Frankreichs kandidierenden Sohne
half in seinem Jammerhelden den Phrasenmann uns noch ser¬
François. Das junge Paar suchte den Tod in der Donau. Me¬
ner rücken. Max Landor als blinder, alter Herzog von
dardus will die Herzogstochter verführen, um der blaublütigen Sippe
Palois entzückt mit einer scharf gegriffenen Studie, natur¬
die Schande zurückzuschleudern als der einfache Bürgerssohn. Doch
wahr und seelengroß, Ilka Grüning ließ ihr anfängliches
er verstrickt sich heillos ins Liebesnetz. Das Weib beherrscht ihn.
mütterliches Interesse leider zu früh als Medardus' Mutter erlah¬
Schnitzler hat keine Tragödie des Helden gebaut; dazu ist seine men; Alfred Abel als philosophierender Buchhändler trug einen
weiche, lässige Künstlerhand zu wienerisch gepflegt. Er hat eine Buckel, allein er virgt keine Engelflügel. Guido Herzfeld,
reite Romanhandlung in einem doppelsinnigen Vorspiel und fünf John Gottowt (zwei Rollen). Max Adalbert (Delikate߬
täwdier und kandtartensvon Nachthiberh Kurt Gög, Trani
Duncke=Carlsen, Haus Karl Müller und Paula Eberty
paßten gut zu ihren zum Teil famosen Episodenrollen. Der Beifall des
festlich gewandeten Publikums blieb zurückhaltend, Versuche zu bru¬
talem Widerspruch fehlten nicht zum Schluß kam doch noch der
Autor.
Theodor Kappstein.