II, Theaterstücke 22, Der junge Medardus. Dramatische Historie in einem Vorspiel und fünf Aufzügen (Altwiener Stück, Doppelselbstmord), Seite 570

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22. Derjunge Medardus
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Der junge Medardus
ohnt es die Länge, die ungeheure? Man müßte am Ende Wiener
T sein. Wenn ein Dichter von Schnitzlers Rang und Hans Brennerts
Herkunft eine „Dramatische Historie“ machte, die in der Falkoniergasse,
hinter dem Gießhause, unter den Linden, auf dem Werderschen Markt,
am Krögel, vor der Singakademie, kurz: zwischen Kranzlerecke und
Molkenmarkt spielte, so würde er bei Einem, der dort aufgewachsen ist,
jeden Pflasterstein kennt und diese Gegend manchmal nur besucht, um
die vertrauten Steine zu treten, um an seinem Gsburtshaus emporzu¬
blicken, um sich sehnsüchtig und sentimental mit dem Duft seiner Kind¬
heit zu erfüllen — also der berlinische Schnitzler würde bei mir bereits
mit der Ausstattung halbgewonnenes Spiel haben. Bastei, Glacis,
Prater, Donau=Auen, Mariahilferlinie und Schönbrunn: das läßt mich
unerweckt. Die Dekorationen und die Lokalbezeichnungen, die vor einem
wiener Theaterpublikum für den Autor dieser Szenenfolge dichten und
denken: in Berlin nehmen sie ihm gar keine Arbeit ab. Hier muß er
sich alles selber besorgen. Und da reicht es, leider, nicht hin und nicht her.
Auf der ersten Seite ist Hoffnung, daß Medardus Klähr die Fran¬
zosen von Wien fernhalten wird. Auf der letzten Seite wird dieser
junge Medardus auf seinen Wunsch standrechtlich erschossen und Napo¬
leon mit Glockengeläut in Wien empfangen. Dazwischen liegt die lang¬
wierige und verzwickte Geschichte eines halben Helden, der nicht einmal
das wäre, wenn ein ganzer Held ihm keine Gelegenheit gäbe, nach einem
Dasein der Zagheit und Schönrednerei sich zu einer Tat aufzurecken.
Lieber den Tod als in der Knechtschaft leben. Poeta propheta. Wo¬
von Schnitzler 1909 geträumt hat, daß sein Oesterreich es um 1914 kun
werde, und wozu er es hat spornen wollen: das tut Medardus 1809.
Seine Landsleute haben kein Vaterland, keinen Charakter. Sie sind
lau, leichtsinnig, naschhaft, klatschsüchtig und käuflich. Ob Kaiser Franz
oder Kaiser Napoleon: solange sie noch ihre Gaudi haben, ist es ihnen
einerlei. Mit hundert Strichen und Strichelchen wird das verspielte
Wesen dieses schwatzhaften, unzuverlässigen, lärmfreudigen Volkes greif¬
bar gemacht. Selbstverständlich sind in diesem Volk nicht alle durch
Neigung zu Zweifel, Faulheit und Raunzerei verdorben. Die paar
Ausnahmen leuchten umso heller. Sie atmen und haben Gesichter wie
die schwachen und schlechten Exemplare. Hätte der Gestalter dieses Ge¬
wimmels, der Kenner der Höhen und Tiefen, der musikalische Nach¬
schöpfer kleinbürgerlicher Tonfälle nur auch die Gabe der dramatischen
Verkürzung!
Aber er schwemmt vierundsiebzig Personen durch siebzehn Szenen,
die manchmal ausgewachsenen Akten gleichen und mit den Personen
eine Not gemeinsam haben: die künstlerisch reizvollsten sind dramatisch
entbehrlich und die unentbehrlichen sind schief und blaß geraten. In
dieser Arche Schnitzlers wird unser Anteil auf zwei Familien und darin
wieder auf zwei Mitglieder gelenkt: auf Helene, Prinzessin von Valois,
und auf Medardus Klähr. Was sich zwischen Vorderhaus und Hinter¬
haus und ihren beiden wichtigsten Bewohnern entspinnt, ist die Haupt¬
handlung, der man Schlankheit schwerlich nachsagen kann. Von Thron¬
schleicherei, Prätendentenverschwörung, blindem Vater und heißblütig¬
eisiger Tochter aus alten Romanbüchern
welch ein Apparat für die
einfache Tatsache, daß Adelheid von Walldorf mit ihrer Tochter Kunigunde
von Thurneck keineswegs ausgestorben ist, und daß ihre letzte Enkelin
einen Anatol der Befreiungskriege durchaus verführen könnte, wenn nur
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