II, Theaterstücke 22, Der junge Medardus. Dramatische Historie in einem Vorspiel und fünf Aufzügen (Altwiener Stück, Doppelselbstmord), Seite 571

M
box 2772
22. Derjundandus
beiden die Nerven und Gliedmaßen von Menschen zuzutrauen wären.
Diese Helene, oder besser: Hélene! Sie zerfällt in Politik und Liebe
aber nicht so, daß Schnitzler eine Frau geformt hätte, die sich durch
ein paar Nächte in eines hübschen Jungen Arme keinen Schritt breit
von ihren hochfliegenden Planen abbringen läßt, sondern so, daß er
zwei Puppen geschnitzelt hat, eine im Unterrock und eine im Panzer¬
hemd, die er immerzu mit einander vertauscht. Und Medardus...
Medardus ist die hohle Frucht von Schnitzlers Ehrgeiz, einmal
einen Liebeskünstler vorzuführen, für den trotz aller Künstlerschaft die
Liebe nicht der Inbegriff ist, der eingedenk bleibt, daß die Zeit neben¬
bei noch andre Inhalte und Ideen, Strömungen und Ziele hat. Er
kommt zwar auf die Bühne meist zu einer Liebesnacht oder von einer
Liebesnacht mit Helenen, der Schwester des Jünglings, der seine eigene
Schwester zum Doppelselbstmord angestiftet hat; aber er spricht immer¬
hin davon, daß er erstens in den Krieg ziehen, zweitens zu Nachezwecken
Helenens Schande verkünden, drittens das Land vom Tyrannen Napo¬
leon befreien wird. Statt dessen geht er erstens zur gefahrlosen Bür¬
germiliz, verstrickt er sich zweitens viel zu fest in die fabelhaften Netze
des Dämons Helene, ermordet er drittens aus Eifersucht sie — die grade
Napoleon ermorden wollte. Das hat zwei peinliche Folgen: daß das
Land nicht vom Tyrannen befreit wird, und daß der Tyrann Kraft und
Muße behält, seinen Möros zu beseitigen. Freilich: Medardus könnte
sich im letzten Augenblick retten und gibt sich preis. Was Schnitzler
zeigen will? Es ist ja deutlich genug. Den Narren seiner Tat, dem
im entscheidenden Moment stets die Hand ausrutscht, ders falsch macht.
wie er es auch macht, und dem nur gelingt, was andern so wenig nützt
wie ihm: die Selbstaufopferung. Liegt auf diesem Schicksal ein Schim¬
mer von ironischer Wehmut, auf diesem Haupt der Glorienschein der
tragischen Schlemihle? Nichts liegt darauf. Medardus hat keine Exi¬
stenz. So wird er sie garnicht verlieren. Er ist, sagt Onkel Eschen¬
bacher, kaum geschaffen, andres zu erleben als den Klang von Worten.
Es müßte ihm möglich sein, die Gedichte auf seinen Tod zu lefen und
auswendig zu lernen, damit er sich zu einer so unabänderlichen Hand¬
lung entschlösse. Wers glaubt, daß der alte Hjalmar Ekdal jemals
freiwillig scheidet, mag es dem jungen Medardus glauben. Der stirbt,
um nicht zu lügen. Aber noch damit lügt er.
Also ein Stück von Schnitzler, das nicht zwingt. Immerhin: ein
Stück von Schnitzler. Am richtigsten hieße es, wie ein Buch von Alten¬
berg: Bilderbogen des kleinen Lebens, des altwiener Volkslebens, wo¬
rin genug von unserm Leben ist. Es herbstelt ergreifend. Viele machen
sich fort und mit allen Schauern. Geschwisterliebe ist stärker als der
Tod und die andre Liebe, die aber auc manchmal blutig endet. Freunde
sind treu wie Schatten, wenn sie nicht zufällig Verräter sind. Entweste
Greise währen am längsten. Melancholie hüllt jede Heiterkeit in einen
matten Glanz. Und überhaupt steht auf diesen zweihundertvierzig
Seiten alles, was in allen Dichtungen Arthur Schnitzlers steht. Aber.
man muß sichs herauslesen. In seinen Einaktern kommt es besser zur
Geltung. Dieses hier ist ein Trumm, um es wienerisch auszubrücken.
Ein großmächtiges Stück Arbeit mit dem Fehler, daß es teils zu viel,
teils zu wenig Arbeit ist. So tonlos wie geräuschvoll. Einer Palette
ähnlicher als einem Bild, wenngleich auf die Palette nicht eine Faust
die Farben geschmiert, sondern eine feine Hand sie behutsam gewischt
hat. Wie gepflegt die Sprache ist! Fast immer artistisch gepflegt, näm¬
lich aus dem Mund und dem Herzen des Sprechers herausgehört.
Manchmal freilich umso überraschender „gepflegt: Selbst ein Manns¬
315