II, Theaterstücke 22, Der junge Medardus. Dramatische Historie in einem Vorspiel und fünf Aufzügen (Altwiener Stück, Doppelselbstmord), Seite 653


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22. Der junge dardus
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Rundschau.
so zu tilgen, aber die unheimliche Macht der stolzen
Unklarheit des Zieles, die Großheit in Worten, das
Genebten über ihn ist zu gr= z, besonders, da sie ihn
Zandern im Tun, ähneln ihn dem Dänenprinzen an.
von sich stößt nach genossenen Nächten, sie, nun mit
dem Vetter verheiratet. Napoleon ist inzwischen
Daß Eros den Wiener aus der Bahn wirft, ist so
Herr von Wien geworden. Meister Eschenbacher,
klar, wie es bei Hamlet die nordische Grübelei ist.
Bruder der Frau Klähr, im Innersten reinster Pa¬
Daß Medardus als kläglicher Held erscheint, kann
triot, nach außen rauh und ironisch, wird füsiliert.
nicht geleugnet werden, trotz des heldenhaften Ge¬
Auf seinem letzten Gang ruft er dem wankelmütigen
ständnisses. Denn es überwiegt der Eindruck, den
Neffen zu: „Medardus, werd' ein Mann!“. Die
wir von der Erdolchung Helenens haben. Aber
Mutter auch spricht aus, was jetzt zu tun sei, Medar¬
wir bedauern doch herzlich den Tod dieses „selt¬
dus ist zur Tat entschlossen. Da wird er wiederum
samen“ Helden. Unsere Schlußstimmung ist am
aus der Bahn geworfen durch Helene von Valois;
ehesten der nach Shakespeares Troilus und Kressida
zu vergleichen.
denn sie kommt, um ihn zur selben Tat anzuspornen,
dann würden die Valois dem Täter dankbar zu sein
Neben dem Schicksal, oder wie man zu sagen pflegt,
wissen. Nun ist für Medardus die Tat wieder unrein
der Handlung des Medardus läuft da noch die der
geworden. Im Schönbrunner Schloßhofe, wo die
Wiener; in glänzend gesehenen und durchgeführten
Leute den Kaiser Napoleon zur Parade erwarten,
Einzel= und Massenszenen erleben wir die Begeiste¬
der eben über den Frieden verhandelt, erfährt der
rung, den Kampf, die Stimmungen nach der Ein¬
Narr seines Schicksales, daß Helene die Geliebte
nahme, die Schaulust und Neugierde, die Freude
Napoleons geworden: da fühlt er sich wieder be¬
am Glanz, die Ergebenheit und das Friedensbedürf¬
rechtigt zur großen Tat, die ihm nun rein erscheint.
nis. Sehr gut kommen die Phäaken nicht weg, bis
In diesem Augenblicke steigt Helene die Treppe zum
auf die Familie Klähr. Frau Klähr und Meister
Audienzsaale empor und Medardus stellt sich ihr in
Eschenbacher sind prachtvolle Gestalten, der hinkende
den Weg und erdolcht sie. So hat sie dämonisch noch
treue Freund Etzelt ein würdiges Seitenstück zu
Horatio.
zuletzt Kraft über ihn. Es ist ein fürchterlicher Hohn,
daß der junge Mann im Gefängnis durch General
Die dritte Handlung ist die des Hauses Valois.
Rapp erfährt, er habe Napoleon das Leben gerettet,
Die Figuren um den alten blinden Herzog sind von
denn Helene stieg hinauf, um den Usurpator zu
vollendeter Feinheit und Wahrhaftigkeit. Da der
töten, wie bewiesen ist. Medardus soll vor Napoleon
Prinz tot ist, übernimmt Helene die Sendung und
erscheinen, der seinen Retter sehen will, da gesteht
reicht dem Vetter die Hand. Auch hier erscheint
er seine mörderische Absicht. Napoleon will ihn den¬
Rapp, bringt ein Geschenk von Napoleon und die
noch frei lassen, wenn er verspricht, ihm nicht mehr
Ladung zu Hofe. Anschläge in Frankreich, die von
nach dem Leben zu trachten. Das kann Medardus
da ausgehen, entdeckt Bonaparte, die Getreuen der
nicht und so wird er standrechtlich erschossen.
Valois fallen und Helene versucht die erlösende Tat.
Wir sehen also, daß der österreichische, der Wiener
Obwohl Napoleon nicht selbst auftritt, spüren wir
Dichter sich nur der historischen Tatsache des Atten¬
fortwährend seine Macht.
tates bedient hat, sonst aber von Friedrich Staps nur
Stärker als alle dem Dichter gemachten Vorwürfe
den Ehrgeiz, das fleißige aber ungeregelte Lesen, die
fällt bei der Wertung in die Wagschale, daß alle
Sprachkenntnis, die Vorliebe für Geschichte und
Personen und Geschehnisse in der historischen Be¬
Geographie — in anderm Zusammenhange — und
dingtheit bleiben, Medardus selber aber „modern“
den Stand der Familie — Buchhändler — herüber¬
anmutet, Dinge sagt, die wir einem jungen Studen¬
genommen hat und schließlich den General Rapp
ten jener Tage nicht ganz glauben zu dürfen meinen.
und den Entschluß Napoleons, Staps trotz des Ge¬
Wir wünschten eben — ob mit Recht oder Unrecht,
ständnisses freizulassen, wenn er bereue und fortan
sei hier nicht entschieden — den Helden pathetisch ver¬
von seinem Vorhaben abzustehen verspräche.
möge seiner Jugend und der großen Zeit, in der er
steht.
Nach dem Attentat folgt der Friedensschluß, aber
nicht, wie die Legende vermutet — post hoc, ergo
Hat der Medardus uns mit einem gemischten Ge¬
propter hoc — nicht als Folge.
fühle entlassen, so noch mehr „Das weite Land“s),
Medardus ist ganz Wiener. Ist eine Art Anatol,
das Schnitzler selbst eine Tragikomödie nennt. Und
ist aber zugleich eine Transponierung Hamlets in
da sei mir das Geständnis erlaubt, daß ich das weite
gewissem Sinne; er bedient sich sogar in verwandter
Land als eine Erfüllung meiner Prophezeiung von
Situation der Worte „Steckt der Herr Marquis
der Tragikomödie an dieser Stelle betrachte.
hinter dem Vorhang?“ Der Ehrgeiz, gepaart mit
91 S. Fischer, Verlag, Berlin.