II, Theaterstücke 21, Komtesse Mizzi oder: Der Familientag, Seite 73

dem bald kein Anlaß mehr sein wird. Man könnte
das Burgtheater ebenso gut an die letzte Stelle setzen,
wenigstens im Bericht. Es ist überhaupt kein Ver¬
gnügen, darüber zu schreiben. Etwa, als sollte man
einem alten, herabgekommenen Menschen, der einst rühm¬
lichere Tage gesehen hat, seine Meinung sagen. Aber
was läßt sich machen, ein Verheimlichen gibt's da nicht
mehr, und man muß wohl oder übel über die künstlerischen
Burgtheaterereignisse berichten. Zum Beispiel, daß
Kainz einen dreimonatlichen Urlaub angetreten hat,
von dem er vielleicht nicht wieder ins Burgtheater
zurückfinden wird. Um uns den Abschied noch recht
schwer zu machen, hat er uns zu guter Letzt noch Oskar
Wildes wunderbaren Renaissancetorso „Florenti¬
nische Tragödie“ vorgespielt. Man hat diesen raffi¬
nierten Schlußakt eines Ehebruchsdramas schon aus einer
Winkelaufführung gekannt oder vielmehr nicht gekannt,
denn die Versepracht, die konzentrierte Leidenschaftlichkeit,
die darin steckt, ist erst von Kainz herausgeholt worden.
Dieses Erwachen und Aufbäumen des Krämers, der
aus Schlauheit und Eifersucht zum Helden, zum Be¬
sieger des fürstlichen Störers seiner Ehe wird, das
ist eine der grandiosesten und verblüffendsten Leistungen,
die man von Kainz hier je gesehen hat, und sie
wurde mit unbeschreiblichem Jubel ausgenommen —
im Burgtheater? Bewahre, wer wird so etwas denken;
im Johann=Strauß=Theater, bei einer Wohltätigkeits¬
matinee.
Also, Kainz ist auf Urlaub gegangen, sprechen wir
nicht mehr davon. Ja, aber von was denn soll man
sprechen? Vielleicht von der denkwürdigen Clavigo¬
Aufführung, mit einem sonst recht lustigen
aber es war
Komiker in der Hauptrolle
doch nicht so lustig, wie man meinen sollte. Lieber
noch von der „Tür ins Freie“, da bin ich wenigstens
aller Kritik enthoben, denn man kennt ja das
Stück schon überall, soweit die deutsche Lustspielzunge
Blumenthals und Kadelburgs reicht Was aber in
Kattowitz oder Gera bereits etwas ganz Gewöhnliches
ist, das bedeutet im Wiener Burgtheater einen großen
Premierenabend, den Höhepunkt der Saison. Und es
wurde wirklich gelacht, namentlich im ersten Akt, sogar
nochzweiten. Aber im dritten Akt gab es nichts
mehr zu lachen, zumal für den erscheinenden Herrn
Kadelburg, der von dem sich besinnenden Burg¬
theaterpublikum bemerkenswert heftig angeblasen wurde

— und das ist vielleicht die erfreulichste Strömung, die
seit langer Zeit in diesem Hause zu spüren war.
Derselbe kühle und entrüstete Luftzug hatte erst ein
paar Tage vorher durch die Hofoper geweht und
zwar bei der ersten Aufführung des musikalischen
Dramas „Der Vagabund“. Der Dichtung Jean
Richepins entsinnt man sich noch aus den fernen
Tagen, da Girardi in Wien am Deutschen Volks¬
theater gewirkt hat. Er gab diesen ruhelosen
Landstreicher, dem die Freiheit und Schrankenlosig¬
keit der Landstraße über alles geht, über Haus und
Hof und sogar über die unveränderte Zärtlichkeit
einer wiedergefundenen verlassenen Geliebten und
ihres Kindes. Das ist zwar eine banale und rühr¬
selige Komödie, aber ein sehr dankbarer Operntext.
Doch wie undankbar erweist sich der Komponist Xavier
Leroux. Er hat für diese naiven Wiedersehens= und
Abschiedsszenen, für diese ländlichen Ernte= und
Weihnachtsstimmungen nichts als eine geklügelte,
mühselige Gehirnmusik, der es an herzerfreuenden
Melodien gänzlich fehlt und die durch ihre Aehnlich¬
keiten mit Puccini, Massenet und anderen für den
Fachmann einiges Interesse hat. Noch ärger ist es
um das Orchester Leroux' bestellt; hier bekämpfen sich
Motive und Instrumente unaufhörlich, wodurch es
manchmal zu den ärgerlichsten Auseinandersetzungen
kommt. An diese Novität, die erste der zur Hälfte ab¬
gelaufenen Saison, ist sehr viel Mühe und künstlerische
Sorgfalt gewendet worden. Aber weder die fein¬
fühlige Regie Wymetals, noch die Kostüme Professor
Rollers und die entzückenden Bühnenbilder Brioschis
konnten den Abend erträglicher machen und das
Publikum über die endlose Langeweile täuschen. Der
Komponist erschien wohl nach dem dritten Akt und
dankte für den Beifall, er galt aber Herrn Demuth,
der in der Titelrolle namentlich darstellerisch außer¬
ordentliches leistete.
Ungleich größeres Glück mit der musikalischen
Moderne hat die Volksoper, die ja den jungen
französischen und italienischen Komponisten jederzeit
offen steht. Hier erschien ein veristisches Werk, das
vor zehn Jahren sehr berühmt und modern gewesen
ist nämlich Umberto Giordanos musikalisches Drama
mit geschichtlichem Hintergrunde „André Chénier“
Der Text Luigi Illicas wirkt heute übrigens noch
immer genügend kraß und kräftig, denn die fran¬
zösische Revolution und die Guillotine tun immer
ihre unsehlbare Wirkung, auch auf der Bühne,
und gar wenn es sich um einen Dichter handelt, um
einen edlen idealen Dichter, der für seine Ueberzeugung
gemeinsam mit der Geliebten auf dem Schaffot endet.
Da kann das Publikum eines Vorstadtopernhauses
nicht widerstehen, da muß es doch begeistert jubeln.
Die Musik Giordanos, technisch nicht uninteressant,
eeeeneeneneneen enen een ene den r en enennen denichten mtene, dant
lichkeit und Kritiklosigkeit eine nicht zu unterschätzende
der Beliebtheit einiger Darsteller und Darstellerinnen,
Gefahr bedeutet.
viel Gefallen und Beifall. Die Wiener Operette
Mancher andere Autor könnte solches nächsichtige
findet sich auch im Programm unserer großen Variété¬
und leicht befriedigte Publikum wohl brauchen. Auch
Bühnen. Natürlich handelt es sich dabei meistens
Franz von Schönthan, der dem Deutschen
um anspruchslosere, kleinere Werke, aber manche
Volkstheater mit seinem altenglischen Lustspiel
Melodie, mancher Witz ist schon von hier aus populär
„Georgina“ eine recht magere Weihnachtsbescherung
geworden, und auch die letzte Novität des Apollo¬
bereitet hat. Ueber die Qualitäten und die Aufnahme
Theaters hat alle Anlagen, die zu einer solchen
dieses allzu fadenscheinigen und gedehnten Stückes ist
Operettenkarriere notwendig sind. Sie heißt „Der
bereits nach der Uraufführung berichtet worden. Heute
Rodelbaron“. Das Libretto stammt von Alexander
ist es schon nicht mehr aktuell, noch weiter darüber zu
Engel und Julius Horst, den bewährten Autoren
reden. Eine viel erfreulichere Urpremiere war die
„der blauen Maus“, die Musik von einem neuen
der einaktigen Komödie „Komtesse Mizzi“ von
Mann, Fritz Fürst. Kein großes selbständiges
Arthur Schuitzler. Ein kleiner ironischer Aus¬
Operettengenie, aber ein sehr liebenswürdiges Wiener
schnit #n dem Milien der österreichischen Aristokratie.
Talent, das eigentlich für den Variétérahmen viel zu
Sieben durch allerlei komplizierte Fäden vielfach mit
fein und anständig ist.
einander verbundene Figuren treten darin auf. Ein
wienerisch=ungarischer Graf, seine siebenunddreißig¬
jährige Tochter, die Komtesse Mizzi, die vor achtzehn
Jahren ein flüchtiges Verhältnis mit dem Fürsten Raven¬
stein hatte, woraus ein Sohn entsproß, der alsbald im
Fiaker vorfährt, und auf dem Bock sitzt der Bräutigam der
ehemaligen Geliebten des Grafen, die von links eintritt,
und zum Schluß erscheint noch der letzte Liebhaber
der Komtesse ... Alle diese Personen, die völlig
verschiedenen Standes, verschiedener Anschauungen
sind, haben durch die zwischen ihnen mehr und minder
heimlich waltenden zärtlichen und verwandtschaftlichen
Beziehungen jahrelang eine Familie gebildet, ohne es
zu ahnen — „Familientag“ ...
In diesem Unter¬
titel steckt die liebenswürdige Ironie, die sich sehr fein
und lustig gegen Standesbewußtsein und Familien¬
hochmut richtet. Das beste daran ist der zierliche,
elegante Aufbau, der bald geistvolle, bald witzige
Dialog. Das Ganze ist keine große, tiefe Dich¬
tung, aber ein reizendes kleines Kunststück aus
einer Seitenlade des Dichterschreibtisches. Noch
einmal kam Arthur Schnitzler zum Wort,
und
zwar bei einer Concordia=Matinee, bei der das
Volkstheater=Ensemble seinen Einakter „Anatoles
Hochzeitsmorgen“ spielte. Es war eine Uraufführung
nach vierzehn Jahren, und Schnitzler hat sich lange
dagegen gesträubt, was nicht ganz unbegreiflich ist,
denn der Einakter ist nicht mehr als ein übermütiger
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Schwank, der mit dem Dichter des „Weg ins Freie“
nicht viel gemeinsam hat. Bei derselben Matinee
wurde ein Einakter, „Besuch in der Dämmerung",
von Thaddäus Rittner gegeben. Dieser junge öster¬
reichische Autor ist im vorigen Jahre durch ein Drama,
„Das kleine Heim“ bekannt geworden. Sein Einakter,
ein Stimmungsdialog, ist nur eine winzige Probe seiner
Begabung, aber eine sehrcharakteristische. Auch der Inhalt
ist winzig. Er wird von zwei Hauptfiguren getragen:
einer „Dame in Rosa“, nämlich einer Halbweltdame,
die ihr Dasein trotz eines reichen Freundes als leer
empfindet, und einem „Herrn in Schwarz“, dem durch
den Tod seiner Frau das Leben nichtig erscheint.
Diese gemeinsame Stimmung führt diese sonst gänzlich
verschiedenartigen Menschen zusammen, und nach einer
Weile gehen sie noch enttäuschter auseinander. Wie
man sieht, ein Nichts von Handlung, aber im Dialog er¬
glänzt manches feine und tiefergehende Wort, und
subtile psychologische Probleme werden behutsam ge¬
streift. Denn Rittner ist sozusagen ein Dichter der
letzten Dinge, ein Dramatiker des Unbewußten —
weshalb ihm auch das breite Theaterpublikum nicht
allzu viel Interesse und Verständnis entgegenbringen
dürfte. Um so stärker wirkte hierauf der „Pech¬
vogel“, eine Szene aus der französischen Revolution
von A. M. Willner. Hinter der Szene verrichtet die
Guillotine unaufhörlich ihre Arbeit, und vorne spielt sich
eine sentimentale Liebesgeschichte ab, die mit ihrem sü߬
lichen, gezierten Dialog in diesem Milieu doppelt
unnatürlich wirkt. .. Von den Schauern der Revolution
und der Guillotine wird ungebührlicher Gebrauch ge¬
macht. Da sieht man wieder einmal, wie gerecht die
Bewegung gegen die Todesstrafe und gegen die
Guillotine ist. Man muß sie unbedingt abschaffen,
schon mit Rücksicht auf den Unfug, den die
Dramatiker damit treiben.
Der berühmte Pariser Schlager „Kümmere dich um
Amélie“, der am Berliner Residenz=Theater, ich weiß
nicht wie lange schon, seine Schuldigkeit tut, hat im
Theater in der Josefstadt ziemlich versagt, und
nicht viel besser erging es der letzten Novität des
Lustspiel=Theaters, der Komödie „Schwanen¬
gesang". Der melancholische Titel ist von den
Herren Duval und Roux ironisch gemeint. Ein
älterer Marquis will seinen Schwiegersohn aus dem
Garn einer Kokotte befreien und gerät selbst hinein.
Das gibt einen guten Lustspielakt, wenn man es
genau nimmt, bloß eine gute Lustspielszene ... Das
hübscheste an der Novität ist die leichte ironisch¬
sentimentale Erotik und der elegante, manchmal geist¬
reiche Dialog, aber es fehlt die richtige Heiter¬
keit; aber vor allem ist das Stück viel zu
anständig, viel zu wenig ärgerniserregend, als daß
es die Gunst des Puhlikums gewinnen könnte.
In dem großen Operetten=Wettrennen behauptet
Ziehrers „Liebeswalzer“ nach wie vor den ersten