II, Theaterstücke 21, Komtesse Mizzi oder: Der Familientag, Seite 272


Wenn die Ezene zum rkbllicl wird sitzt gewöhnlich Frau
Iustitia in eigener Person auf der Anklagebank. Der Dichter wird
zum Richter, und er fällt seinen Spruch im Namen einer reinen
Menschlichkeit. Es ist gewiß nicht zum Schaden der Gesellschaft,
wenn wir wieder einmal darauf gestoßen werden, daß alle mensch¬
lichen Satzungen Stückwerk sind, daß auch heute noch Gesetz und
Recht sich wie eine ewige Krankheit forterben und jeden Tag aufs
neue Vernunft Unsinn, Wohltat Plage wird. Die Frage ist nur,
ob die Kunst, wenn sie der Gerechtigkeit die Binde von den Augen
reißt, sich dieselbe nicht im gleichen Moment selber anlegt. Wenn
Spieler und Gegenspieler sich vor allem dadurch unterscheiden, daß
nur der eine, das Opfer der Justiz, für sich allein einsteht, der
andere aber, der Träger der Justis, als beamteter und berufener
Vertreter staatlicher Institutionen handelt, kommt das dramatische
Gebäude etwas aus dem Gleichgewicht. Die Sympathien sind von
vornherein ungleich verteilt, das Mitleid wird einseitig in Anspruch
genommen, und wir kommen letzten Endes nur zu Richtern, wie
sie nicht sein sollen, und Verbrechern, wie sie ge¬
wöhnlich nicht sind. Die Tendenz behauptet das Feld, und
wir müssen uns sehr hüten, daß wir am Ende aus lauter Gerechtig¬
keit nicht ungerecht werden — gegen die Gerechtigkeit. Die Kunst
aber geht schließlich leer aus, ja vielleicht wird sie auch noch um die
Zeugengebühren geprellt. Dafür tun wir aber unter Umständen
einen tiefen Blick in dunkle soziale Schichten, und ein bisserl
Spannung ist ja alleweil dabei, wenn der Richter am Tische sitzt
und der Gendarm im Hintergrunde steht. Diese Bedenken allge¬
meiner Art gelten auch für das Gerichtsstück von Anton Wild¬
gans In Ewigkeit amen“, das gestern zum erstenmal ge¬
geben wurde. Sie werden dadurch noch verstärkt, daß es sich dies¬
mal nur um einen einzigen Akt handelt. Dadurch geht der Ver¬
fasser des Vrzugs verlustig, uns gegebenenfalls einen Blick
hinter die Ereignisse tun zu lassen und uns über Dinge aufzu¬
klären, die der Justiz zunächst verborgen bleiben. Wir sind wäh¬
rend der ganzen Verhandlung mit den Personen und ihren Aus¬
sagen in gleicher Weise konfrontiert wie der Richter selbst, und
wenn wir klor sehen und handgreiflich vom Dichter darauf gestoßen
werden, klar zu sehen, dann gehört schon eine ganz besonders
abnorme und minderwertge Spezies von Richter dazu, wenn er
seinerseits nicht klar sieht oder nicht klar sehen will Der Unter¬
suchungsrichter bei Wildgans gebört zu den Juristen, die, wenn
sie nichts herausverhören können, das Nötige hineinverhören; und
es ist sicherlich nicht ohne Spannung wenn er schließlich den ent¬
lassenen Zuchthäusler Anton Gschmeidler dazu bringt, gegen sich
selber zu zeugen und einzugestehen, daß er den Angriff auf seine
Wirtin, die zugleich seine Peinigerin ist, nur deshalb gemacht habe,
um wieder ins Zuchthaus zurückzukommen. Außerdem ist das
kleine Stück reich an ausgezeichnet beobachteten Volkstypen, wie
e. B. der Schenkkellner Kritzenberger und seine Geliebte, die ehe¬
malige Prostituierte Marie Dworack, in deren beider Verhältnis
die Justiz ebenfalls mit unbarmherziger Hand hineinleuchtet. Das
letzte Wort der christlichen Milde fällt dem jüdischen Protokollisten
zu, und eine geschenkte Zigarre wird das Symbol der allgemeinen
Menschenliebe. Diese letzte, halbstumme Szene ist von großer
Wirkung. Das kleine Stück fand unter der Leitung von Max
Montor eine Aufführun; die zu dem Allerbesten gehört, was
wir in letzter Zeit überhaupt im Deutschen Schauspielhaus gesehen
haben. Montor selbst spielte den Richter mit feinem Takt und
dämpfte einige Auswüchse der Charakteristik sehr geschickt. Herr
Wlach gab den Protokollführer ausgezeichnet; er war in der Ver¬
handlung ganz Auge, er schmolz förmlich in Mitgefühl, und auch
für die letzte Szene fand er das richtige, etwas ins Groteske hin¬
überspielende Pathos. Köstlich waren ferner Herr Lang und
Frl. Bauer als zwei Wiener Volkstypen. Eine Meisterleistung
war aber vor allem der Gschmeidler des Herrn Kobler, der in
schlichtester Art wirklich ergreifende Menschlichkeit bot.
Das Schnitzlersche Stück Komtesse Mizzi“ ist für Ham¬
burg keine Neuheit mehr. Es gehört zu den gewagtesten, aber auch
zu den graziösesten Stücken des Wiener Dramatikers, und das
wahre Wesen der Kaiserstadt an der Donau spiegelt sich in den ver¬
zwickten Situationen dieses Familientags auf das schalkhafteste
wider. Die gestrige Aufführung litt unter dem übelstande, daß die
Rolle des Fursten Egon von Ravenstein, des aristokratischen un¬
ehelichen Vaters, mit Herrn Wagner falsch besetzt war. Er
erschien in einer unmöglichen Maske, sprach einen unmöglichen Ton¬
fall und brochte das schier unverwüstliche Stück beinahe um seine
Wirkung. Herr Lang war ein etwas zu junger, sonst aber sehr
fescher Graf Pazmandy, und bei der Komtesse Mizzi von Frau
Serda vermißten wir einige ironische Glanzlichter. Herr
Balder gab den gemeinschaftlichen Filius Philipp mit glücklichem
Humor, aber mit einem leichten Altersanflug. Sehr glücklich war
mieder Frl. Bauer als die glücklich in den Hafen der bürgerlichen
ohe einlaufende Lolo Langhuber.
Gegenüber diesen beiden Stücken fällt der Einakter von
Judwig Thoma „Gelähmte Schwingen“ stark ab Der
e##grunde liegende Einfall ist nicht übel. Bei einem bayerischen
Volksdichter erscheinen am Morgen nach dem Durchfall seines
I zten Volksstückes die beiden Schwiegereltern, biedere Metzgers¬
leute aus dem Lechel, mit der kategorischen Forderung, der Schwie¬
gersohn müsse nunmehr nach dem Machtgebot der Kritik modern
dichten, denn das könne seine Kundschaft verlangen. Der zum
äußersten gereizte Poet bringt sie aber durch die Vorlesung seines
Stückes zum Schweigen. In den strömenden Tränen des Metzger¬
ehepaares wird ihm Absolution zuteil. Aber der Dichter begnügt
sich eigentlich mit dem Einfall und überläßt die komische Durch¬
führung getrost seinen Schausvielern. Darin wurde er auch gestern
nicht getäuscht; denn Herr Lang und Frl. Bauer stellten zwei
Münchener Svießer auf die Bühne von einer geradeen über¬
wältigenden Komik, und sie paukten den guten Ludwig Thoma
A. P.
denn auch noch einmal wieder heraus.
Wien, I., Concordiapl
Sehlssischt Zcitung, OrRl& Nr. 4
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„Komtesse Mizzi“ oder „Der Familientag“ die einatrige
hen wir vor zehn Jahren im Lobe¬
Komödie #g
theater und hätten es uns damals wohl nicht träumen lassen, daß
das Werk nun in so kurzer Zeit schon ein historisches Stück sein
würde. Denn diese Grafen, Fürsten, Herrenhausmitglieder usw.,
die darin vorkommen, gibt's ja im heutigen Österreich nicht mehr,
sie gehören der Vergangenheit an. Trotzdem machte die liebens¬
würdige Bosheit, wie der Dichter hier retrospektiv einen echt öster=11
Tebrrfauverstchelung 2 ——


reichischen Liebesreigen enthüllt, wieder viel Spaß. Auch durfte1d
man sich zweier sehr guter schauspielerischer Leistungen erfreuen: de
Fräul. Marliese Ludwig führte sich in der Titelrolle höchst an¬
nehmbar ein, sie war Wienerin im Sprechen, im Spiel und im
Aussehen. Herr Sondinger, der ihren natürlichen Sohn Philippi###
gab, zeigte sich dieser Mutter durchaus ebenbürtig und brachte das
Aristokratisch=Burschikose des jungen Herrn äußerst echt zum Aus¬
druck. Wären die Herren Habel und Arnfeld als alt=österreichische 1#
Aristokraten ebenso echte Typen gewesen, so hätte man, da auch die
Szene ganz gut aussah (Spielleitung Herr Habel)' von eiper
Musteraufführung sprechen dürfen.