20. Zuischensniel
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werk seines Wesens weichste und zarteste Linien
ziehen kann. Auf einem mit Wissens-Runen zerfurchten
Brett muss diese Zeichnung verzerrt und verkrüppelt
ausfallen.
Im Jubiläumsthealer: Der Marquis von Priola.
Geist. Eine Kulturforderung an wohlerzogene Menschen
wird es künftig werden: nicht geistreich zu sein. Kein
wirklich Grosser war es. Hat man je von Beethoven,
Goethe, Dostojewski, Wagner, Michelangelo gesagt,
dass sie egeistreiche waren? Geistreich sind Kaffechaus¬
literaten, Journalisten, Ludwig Fulda, Plaudertalente
der bürgerlichen Gesellschaft. Und vor allem Leute,
die Künstler sein wollen aber, da ihnen die mysteriöse
Kraft hiezu fehlt und die gestallende Faust, nun mit
ihrem Witz, ihren Einfällen und Ideen, mit denen
was Ernstes nicht anzufangen ist, spielen. Dennoch
könnte man sich zur Not auch einen geistreichen
Künstler vorstellen. Metier-Erfordernis. Aber einen
geistreichen Aristokraten? Einen Marquis, der Pointen
wie Fliegen von den Wänden abfängt, den Neben¬
menschen fortwährend durch dialektische Ueber¬
trumpfungen in Verlegenheit setzt, die Leute immer¬
fort mit seinem lästigen Witz beunruhigt? Das geht
nicht. Ein Gentleman ist nicht geistreich. Mindestens
nicht im Gespräch, Man hält an der Tafel die Ellen¬
bogen bei sich, auch, sozusagen, die geistigen. Man
fuchtelt mit Messer und Gabel so wenig herum, wie
mit seinem Witz. Esprit ist Privatsache. Und: -Witz
ist das Niesen des tichirns-. Aber wenn man niest,
häft man sich eben das Taschentuch vor.
#
Chin Burgtheater ein neues Stück von Schnitzlur¬
das von vielen sehr gepriesen wird, andere, nicht
die Schlechtesten, kalt bis ins Innerste gelassen hat.
vielen überaus fein und klug, anderen — um es mit
jenem Wort zu sagen, dass ich für das kritisch Ent¬
scheidende halte — belanglos schien. Kleine Irr¬
tümer sind hier möglich. Grosse ausgeschlossen. Denk¬
bar, dass manche tiefere Meinung des Dichters unent¬
deckt, manche Absicht des Dialogs unverstanden
blieb; dass die eine oder die andere versteckte
Gefühlsmelodie auf Seelentaubheit beim Zuschauer
stiess, manches kiuge Wort vergeblich zum Hörer
strebte. Solches Detailmissgeschick mag das Werk
wohl gehabt haben.
Dier aber (ganz allgemein gesprochen) — ob man
nämlich immer lacht, wenn der Dichter kitzelt, immer
weint, so oft er die Thränendrüsen attackiert — ist
belanglos gegenüber der Tatsache, dass des Dichters
Werk nicht weiter als eben bis zur Haut des Hörers kam.
Das allein ist ausschlaggebend: ob uns ein Kunstwerk
innerlich alarmiert. Ok es unseres Herzens Schlummer
stört, ob es sich mindestens in dessen Träume zu mischen
weiss. Dieses Vertrauen kann ein kultivierter Mensch
beim Betrachten eines Kunstwerkes wohl in sich
setzen: wenn sein Pösten stehender Intellekt nicht
Generalmarsch schlägt, so ist nichts Imperiales in der
Nähe. Ausgeschlossen, dass es sonst unerkannt bliebe.
Man kann nech immer himmelweit davon entfernt
sein, das Wesen, den Wert dieses hohen Herrn, der
vorbei kam, zu verstehen. Aber man spürt ihn
als hohen Herrn. Dumpf vielleicht, wie ein Sklave;
hasserfüllt wie ein Proletarier, den der vorbeirollende
Wagen mit Kot bespritzt. Jedenfalls: man spürt den
hohen Herrn. Ich kann mir ganz gut denken, dass ich
etwa als Zeitgenosse Richard Wagners keine blasse
Ahnung vom Wesen seines Genies gehabt hätte, dass
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werk seines Wesens weichste und zarteste Linien
ziehen kann. Auf einem mit Wissens-Runen zerfurchten
Brett muss diese Zeichnung verzerrt und verkrüppelt
ausfallen.
Im Jubiläumsthealer: Der Marquis von Priola.
Geist. Eine Kulturforderung an wohlerzogene Menschen
wird es künftig werden: nicht geistreich zu sein. Kein
wirklich Grosser war es. Hat man je von Beethoven,
Goethe, Dostojewski, Wagner, Michelangelo gesagt,
dass sie egeistreiche waren? Geistreich sind Kaffechaus¬
literaten, Journalisten, Ludwig Fulda, Plaudertalente
der bürgerlichen Gesellschaft. Und vor allem Leute,
die Künstler sein wollen aber, da ihnen die mysteriöse
Kraft hiezu fehlt und die gestallende Faust, nun mit
ihrem Witz, ihren Einfällen und Ideen, mit denen
was Ernstes nicht anzufangen ist, spielen. Dennoch
könnte man sich zur Not auch einen geistreichen
Künstler vorstellen. Metier-Erfordernis. Aber einen
geistreichen Aristokraten? Einen Marquis, der Pointen
wie Fliegen von den Wänden abfängt, den Neben¬
menschen fortwährend durch dialektische Ueber¬
trumpfungen in Verlegenheit setzt, die Leute immer¬
fort mit seinem lästigen Witz beunruhigt? Das geht
nicht. Ein Gentleman ist nicht geistreich. Mindestens
nicht im Gespräch, Man hält an der Tafel die Ellen¬
bogen bei sich, auch, sozusagen, die geistigen. Man
fuchtelt mit Messer und Gabel so wenig herum, wie
mit seinem Witz. Esprit ist Privatsache. Und: -Witz
ist das Niesen des tichirns-. Aber wenn man niest,
häft man sich eben das Taschentuch vor.
#
Chin Burgtheater ein neues Stück von Schnitzlur¬
das von vielen sehr gepriesen wird, andere, nicht
die Schlechtesten, kalt bis ins Innerste gelassen hat.
vielen überaus fein und klug, anderen — um es mit
jenem Wort zu sagen, dass ich für das kritisch Ent¬
scheidende halte — belanglos schien. Kleine Irr¬
tümer sind hier möglich. Grosse ausgeschlossen. Denk¬
bar, dass manche tiefere Meinung des Dichters unent¬
deckt, manche Absicht des Dialogs unverstanden
blieb; dass die eine oder die andere versteckte
Gefühlsmelodie auf Seelentaubheit beim Zuschauer
stiess, manches kiuge Wort vergeblich zum Hörer
strebte. Solches Detailmissgeschick mag das Werk
wohl gehabt haben.
Dier aber (ganz allgemein gesprochen) — ob man
nämlich immer lacht, wenn der Dichter kitzelt, immer
weint, so oft er die Thränendrüsen attackiert — ist
belanglos gegenüber der Tatsache, dass des Dichters
Werk nicht weiter als eben bis zur Haut des Hörers kam.
Das allein ist ausschlaggebend: ob uns ein Kunstwerk
innerlich alarmiert. Ok es unseres Herzens Schlummer
stört, ob es sich mindestens in dessen Träume zu mischen
weiss. Dieses Vertrauen kann ein kultivierter Mensch
beim Betrachten eines Kunstwerkes wohl in sich
setzen: wenn sein Pösten stehender Intellekt nicht
Generalmarsch schlägt, so ist nichts Imperiales in der
Nähe. Ausgeschlossen, dass es sonst unerkannt bliebe.
Man kann nech immer himmelweit davon entfernt
sein, das Wesen, den Wert dieses hohen Herrn, der
vorbei kam, zu verstehen. Aber man spürt ihn
als hohen Herrn. Dumpf vielleicht, wie ein Sklave;
hasserfüllt wie ein Proletarier, den der vorbeirollende
Wagen mit Kot bespritzt. Jedenfalls: man spürt den
hohen Herrn. Ich kann mir ganz gut denken, dass ich
etwa als Zeitgenosse Richard Wagners keine blasse
Ahnung vom Wesen seines Genies gehabt hätte, dass