II, Theaterstücke 19, Der Ruf des Lebens. Schauspiel in drei Akten (Vatermörderin), Seite 17

de
19. Der Ruf Lebens
Lessing=Cheater.
Hum ersten Mal: „Der Ruf des Lebens“, Schaufpiel in drei
Akten von Artur Schnitzler.
M. J. Vor ein paar Wochhar Ariae Schnitzler mil
einer leisen, feinen, zarten Bühnennovelle Beifall geerntet.
Dafür wurde gestern sein jüngstes Drama, das scheinbar
laut und derb mit Gift und Schießgewehr arbeitet, abgelehnt. Schein¬
bar laut und derb. Denn in Wahrheit klingt aus beiden Werken
der gleiche Grundton, der dem Flüstern mehr als dem Schreien
ähnelt. Hier wie dort spricht eine einsichtige, ein wenig müde
Slepsis von den Dingen des Lebens. Liebe, Treue, Ruhm
und Ehre, alles, was die Leidenschaften aufflammen läßt, wird ge¬
wogen und zu leicht befunden. Worte find's, bloße Worte. Lächerlich
fast scheinen die Menschen, die sie zu schwer nehmen, die über Glück
und Reue grübeln, statt sich des einzig Wirklichen, des Lebens und
des Sonnenscheins zu freuen.
Diese Lehrweisheit wäre zu ertragen, wenn sie auch noch so dentlich
vom Raisonneur vorgetragen wird, den Schnitzler nicht entbehren kann
Im „Zwischenspiel“ schien es nur, als betrachteten die Menschen
die Dinge des Lebens aus allzu großer Entfernung. Als dringe
nicht genug Lärm und Unruhe des Daseins in die geschlossen
Stube der Beobachter. Im „Ruf des Lebens“ aber ist's umgekehrt.
Um den ungewissen Wert der starken Erschütterungen deutlicher
kundzutun, werden sie leibhaftig ad oculos demonstriert. Der Anfang
und der Schluß gehörten den Reflexionen. In der Mitte
werden desto energischer Mord und Totschlag konzentriert. Ein Mädchen
reicht einem Sterbenskranken, der ihr Vater und Quälgeist zugleich
ist, Gift statt Arznei, um eine letzte Nacht dem Liebsten zu schenken.
Dem Liebsten, der morgen mit den blauen Kürassieren in den
Tod reiten muß. Sie glaubt zum ersten Male in einem mürben,
verstörten Dasein den Ruf des Lebens zu vernehmen. Aber die Lockung
scheint trügerisch. Wohl genießt sie alle Seligkeit der Welt. Aber
auch all ihren Jammer, denn sie wird in ein blutiges Ehedramg
verstrickt, das ihrer Nebenbuhlerin wie ihrem Galan den Tod bringt
Zu spät erkennt sie, daß sich im Alltagsfrieden das Leben reiner,
klarer spiegeln kann als in den großen Tumulten und Passionen
der Seele.
So lange in dieser Bühnenschöpfung die Beschaulichkeit spricht, ist's
ein Vergnügen, feinen und klugen Worten zu lauschen. Doch
immer klarer zeigt sich, daß der Dramatiker Schnitzler über
diese Grenze nicht mehr hinauszudringen vermag. Will er
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den Dingen des Lebens selbst zu Leibe rücken, so versagt seins
Kraft. Im Wetteifer mit den Theatralikern muß er unterliegen.
Denn er ist allzu sehr von seiner eigenen Lehre überzeugt, daß sich
hinter den großen Leidenschaften nur Lügen bergen. Deshalb ist er
nicht mehr naiv genug, ihre Schrecken selbst mit stockendem Atem,
mit heißer Stirn zu durchleben. Allzu kühl, allzu skeptisch wird
darum das Ehedrama betrachtet. Sorglos, fast skizzenhaft ist
das Intermezzo vom Obersten, der seine ehebrecherische Frau nieder¬
schießt, hingeworsen. Gleich hinter zwei Vorhängen sind die Lauscher
verborgen, die am Schluß entscheidend einzugreifen haben. Kühle,
korrekte Aeußerungen eines schneidenden Witzes ertönen stakt eines
Aufschreis der bangen Kreatur. Der Autor steht über der Situation
und scheint schon hier dazwischenzurufen: Worte, Worte, nichts als
Worte.
An diesem inneren Zidiespalt geht das Werk zugrunde. Zumal
es allzu locker komponiert ist, allzu breit das Ueberflüssige neben das
Wichtige schiebt. Im Anfang zwar spricht die Heldin knopp und herb mit
der Dialektik der Hebbelschen Tischlertochter. Bald aber muß sie ihre
Aufmerksamkeit an Nebenfiguren verschwenden, die sich breit in den
Vordergruno pflanzen. Ein entsagungsvoller Forstadjunkt, eine
mannstolle Base mit Ophelia=Allüren nehmen bei aller Kürze des
Dramas zu viel Zeit in Anspruch. Nach dem bunten und lauten
Wirrsal des Mittelakts klingt der Schluß desto matter aus, in dem
der Raisonneur mit erhobenem Zeigefinger das Fazit zieht. Solange
ein Bühnendichter sich von einer solchen Eselsbrücke nicht emanzi¬
pieren kann, verrät er die Schwäche und Unfreiheit, die Schnitzlers
jüngstes Werk begräbt.
Ein wenig von dieser Unfreiheit schien auch den Darstellern in die
Glieder gefahren zu sein. Fast alle starken Persönlichkeiten aus Direktor:
Brahms Reich waren zwar aufgeboten. Aber das treffliche Paar
Rittner=Lehmann war in so schattenhaften, bedeutungslosen Rollen
beschäftigt, daß es schon deshalb seine lebendige Kraft nicht entfalten
konnte. Selbst Irene Triesch, die Darstellerin der Heldin, er.
lahmte zuweilen im Bemühen, die verlorene Festung zu halten. Doch
wenn sichtote Strecken zwischen einzelnen Ausbrüchen des Affekts hinzogen.
so ist es wahrlich nicht allein die Schuld der Schauspielerin, die jüngst
erst im „Zwischenspiel“ das Schnitzler=Examen mit Auszeichnung be¬
standen hat. Eine desto dankbarere Aufgabe fand Bassermann
in der Gestalt des Obersten. Ihre sarkastische Ueberlegenheit,
ihren heimlichen Zynismus kann niemand schlagkräftiger als
er zutage fördern. Als Rabenvater im Krankenstuhl mühte sich Herr
Marr redlich nach dem Lorbeer des Virtuosentums, während Herrn
Stielers angebeteter Leutnant Jugendlichkeit ohne süßlichen Bei¬
geschmack darbot. Als verirrte Ophelia debütierte eine Dame, die vorläufig
noch den einheitlichen Ton des Brahmschen Ensembles empfindlich stört.
Das ist nicht kollegial von ihr. Denn dafür ist bereits Fräulein
Schiff engagiert, die auch gestern als Oberstenfrau ihrer Mission
mit Hingabe nachtam