II, Theaterstücke 19, Der Ruf des Lebens. Schauspiel in drei Akten (Vatermörderin), Seite 100

„Der Ruf des Lebens.“
war als V#rie von aufwühlender, siebernder
(Erste Aufführung im Lessing=Theater.)
Leidenschaftlichke Albert Bassermann
Man hat Arthur Schnißzler bei seinen als Oberst prachtvolk in der kalten, über¬
tenten, Tonunen vielach i uf gemacht¬
legenen Ironie seines Wesens. Hans
daß er dem Leben, dessen tiefe Rätsel er so sinn=]Marx als sterbender Alter aber w#lte gar
voll zu deuten weiß, nicht immer die klaren und
zu viel geben und Rudolf Rittnar hehondelie
krüftigen Töne abzugewinnen vermag, die die Bühne den Forstadjunkten mit einer absichtlichen Lässigkeit,
verlangt. Bei seinem neuen dreiaktigen Schau= die selbst diese farblose Rolle nicht verdient hätte.
spiel. „Der Ruf des Lebens“, das am Ganz vorzüglich in seiner kraftvollch, jugendfrischen
Sonnabend im Lessing=Theater zum ersten Mal Männlichkeit war Karl Stieler als Leutnant
gespielt wurde, hat man nun das Gefühl, daß er Max, während Alwin Neuß und Else
über die zarten, verschwimmenden Linien hinaus,[Schiff bewiesen, wie weit man es selbst im
die ihm sonst eigen sind, einmal beweisen wollte,
Lessing=Theater trotz vorgeschrittener Talentlosigkeit
daß er auch sehr kräftig und brutal sein könne,
bringen kann. Grete Hoffmann als
wenn es durchaus verlangt würde. Aber dazu liebesdurstige Katharina; mit“ den Ophelia¬
hat er seinem innersten Wesen im gewissen Sinne tönen vermochte die unglaubwürdige Gesalt
Gewalt antun müssen, und er hat nur ein gequältes, nicht lebendig zu machen, Else Lehmann
mühsam konstruiertes Stück zustande gebracht. Zu
quälte sich nutzlos mit einer überflüssigen alten
den klugen und tiefen Gedanken, die Schutler auch
Tante ab und Emanuel Reicher vergriff!
diesmal in reicher Fülle spendet, will die ußerliche
sich als Arzt bis in die verblüffendste Nüchternheit
Handlung, die wie aus einem bösartigen Hinter¬
hinein. Alles in allem war es also auch dar¬
treppetroman herausgeschnitten erscheint, absolut
stellerisch kein Abend, auf den das Lessing=Theater
nicht passen. Auf der Bühne, deren tönende Re¬ besonders stolz zu sein braucht.

sonanz jeden unreinen Klang zehnfach ver¬
KA
stärkt wiedergibt, wirkt dies schreiende
Mißverhältnis peinlich und abstoßend.
Auf der Bühne reden die Dinge nd die Gescheh¬
nisse weit lauter, als das gesprochene Wort, und
dein Widerspruch zwischen dem Charakter eines
Menschen und seinem Tun läßt sich auf ihr durch
keine noch so beschönigende Umschreibung aus der
Welt schaffen. Der Ruf des Lebens dringi
lockend auch an dar Ohr der unglücklichen
Marie. Ihr alter, kranker Vater, der früher ein¬
mal Rittmeister bei den blauen Kürassieren war
und damals eine Schlacht durch seine Feigheit!
verloren machte, ist zugleich ihr Kerker¬
meister, der sie von allen Freuden des Lebens
absperrt. Einmal nur hat Marie einen
Ball besuchen dürfen, und dort hat sie die ganze
Nacht mit einem Leutnant von den blauen
Kürassieren getanzt. Ihn liebt sie, aber
sie wagt nicht, zu ihm zu gehen und sich
ihm hinzugeben. Da wird es wier.. Krieg —
das Stück spielt in den jünfziger Jahren des
vorigen Jahrhunderts — und die blauen Kürassiere
wollen die Schande, die sie dreißig Jahre
früher auf sich geladen haben, wieder gut
machen. Die Offiziere des Regiments haben
sich geschworen, daß niemand von ihnen lebend
zurückkommen dürfe. Einer der Todgeweihten
ist auch Max, den Marie liebt. Als sie erfährt,
daß ihr eigener Vater eigentlich schuld daran ist,
daß auch ihr Geliebter sterben muß, vergiftet sie den
alten Mann und eilt zu ihrem Liebsten. Max aber
hat schon ein Verhältnis mit der schönen Frau seines
Obersten. Dieser ahnt, was zwischen den beiden
vorgeht, und überrascht sie im entscheidenden
Moment, als sein Weib in ihrer verliebten
Leidenschaft dem jungen Offizier den Ruf
des Lebens ertönen läßt. Sie will mit Maxs
entfliehen und er soll nicht sterben. Der
Oberst schießt sie dafür einfach nieder, und Marie,
die Zeugin von dem allen war, schenkt ihrem Max;
trotzdem die eine Liebesnacht, an deren Ende er
sich dann selbst erschießt. Der Ruf des Lebens, der
sie zur Vatermörderin gemacht hat, jagt ihn
in den Tod. Damit aber kein Akt ohne Leiche
leibt, stirbt im dritten noch Maries Consine Katha¬
rina, ein schwindsüchtiges Mädchen mit Ophelia¬
phantasien, die in die letzten Jahre ihres Lebens
noch möglichst viel Liebe zusammenzudrängen weiß.
Marie aber hat sich mit dem Vatermord ebenso
ruhig abgefunden, wie ihr Freund, der Arzt,
der so etwas ganz natürlich findet. „Und wenn
der Ruf des Lebens nochmals an sie
ergeht, wird sie voraussichtlich einen vorurteils¬
losen Forstadjunkten heiraten, der ihr
schon im ersten Akt erklärt hat, daß von dem
Mädchen, das er liebt, ihn weder Untreue,
noch Buhlerei oder Mord zurückschrecken würde.
Das Publikum war mit dieser Auffassung
nicht einverstanden. Ihm erschienen diese