19. Der Ruf des Lebens
box 24/2
4 Der Ruf des Lebens
Lessing=Theater. Sonnabend zum ersten Male: „Der Ruf
des Lebens.“ Schauspiel in drei Akten von Arthur
Schnitzler.
#####vielleicht kennzeichnend für die moderne Dichtung, daß
schon in ihren Titeln das Leben eine gewisse Rolle spielt. Und in
ihrem Inhalt der Ruf des Lebens. Des Lebens, das die geknechtete
weibliche Seele ruft zur Befreiung aus den engen Fesseln ver¬
alteter Rücksichten, zur Erfüllung der höheren Pflichten gegen die
eigene Persönlichkeit; der Aufschrei der aus der Versklavung jäh
erwachenden Kreaturen, wie der Schrei des brünstigen Hirsches —
das alle Sinnen und Nerven packende elementare sehnsuchtsvolle
Verlangen, nicht nach dem Glück des Philistermenschen, sondern nach
dem eigentlichen Wunderbaren, den höchsten jubelnden Wonnen
selbstvergessenen Sichhingebens. Kein Schuldbewußtsein darin, keine
Reue — nur der verzweifelte Gedanke, es könne zu spät sein. Der
Ruf des Lebens tönt in Schnitzlers Schauspiel; aber das Leben
rechtfertigt seinen Ruf nur schlecht, und ebenso wenig im Grunde
des Stückes exemplifizierender Inhalt seinen allgemeinen Titel.
Ein nicht gut komponiertes Stück, das sich nicht so leicht der
Analyse gibt. Im Kern, wie so viel bei Schnitzler, ein leises nach¬
denkliches Stück, dem äußerliche und krasse Bühneneffekte auf¬
gepfropt sind. Das Werk eines geistvollen, innerlich beschaulichen,
seelensondierenden Dichters, der des Lebens großes Gleichnis geben
will, dann eines geistreichen Konstrukteurs, der kontrapunktisch sein
Thema abwandelt, endlich eines Theatralikers, der mit Gift und Pistolen¬
schüssen operiert und mit Vorhängen, die freiwillig und unfrei¬
willig Lauschende bergen. Ein Stück mit drei Leichen, das doch
keine Tragödie ist. Mit gedrungener, ergreifender poetischer Kraft
einsetzend, durch parallele und andere Episoden retardiert, an¬
steigend zu zwei sich steigernden dramatischen Höhepunkten, einem
echten, einem zweiten unechten, und in der nachdenklichen Betrachtung
eines weichen stillen Schlußaktes matt abfallend zu skeptischen
Lebensweisheiten, die doch mehr tief scheinen als tief sind. Ein
Ausklingen in eine Erkenntnis zwischen melancholischer Resignation
und ruhiger Lebensbejahung: willkürlich und lügenhaft und hin¬
fällig ist die Bewertung der moralischen und der Levensgüter und
aller großen Worte, mit denen sie verkleidet werden, und nur das
Leben selber ist gewiß; wer gestorben ist, ist tot — der Lebende
freue sich des Sonnenscheins. So ungefähr ist der Sinn dessen,
was zum Schluß der Arzt, eine Art Raisonneur des Schauspiels,
als Fazit der Erlebnisse ziebt; er, der unwissentlich den Ruf des
Lebens wieder geweckt hat in der Brust eines jungen Weives, wo
er nahe daran war sich einzulullen, der dann über Mord und buhlerische
Liebesbrunft, aus seiner erfahrenen resimnierenden Skepsis heraus,
den tilgenden Schleier vergebenden Verstehens breitet. War das
erlebte Leben, zu dem es die wunde Seele rief, des Preises der
Schuld am Ende nicht wert, noch immer darf und wird das Leben
locken zu dem Frieden eines stillen Daseins in der Sonne. Der
Dichter aber läßt kontrastierend in den Ruf des Lebens ein zweites
Thema hineingleiten, den Ruf des Todes; und fugenartig, in poctisch
dialektischer Kontrapunktik, verwebt er die Motive zu einem Höhe¬
punkt äußerster Theatralit, wo der Ruf des Lebens selbst in die
Nähe des Todes führt
Das Stück spielt in und bei Wien um die Mitte des vorigen
Jahrhunderts. Marie, des ehemaligen Rittmeisters der blauen
Kürassiere Tochter, vertrauert ihre Jahre in der Knechtschaft des
alten, hoffnungslos kranken, brutal egoistischen Vaters, eines Greises,
der trotz seiner neunundsiebzig Jahre sich an das Leben klammert;
eines Todgeweihten, der vor drei Dezennien einst die nur ihm be¬
wußte Schuld trug, die Flucht des Regimentes im entscheidenden
Kampfe und den Verlust der Schlacht herbeigeführt zu haben. Und so ist
sein Dasein schuld, daß jetzt die blauen Kürassiere als Todgeweihte,
die alte Schuld des Regiments zu fühnen, ausreiten in den Krieg.
Wie eine Gefangene verbringt Marie ihre Tage; vielleicht wird
einmal an der Seite des braven Forstadjunkten ein stilles be¬
scheidenes Glück ihrer harren. Da fällt wie ein Lichtblitz eine
Ballnacht in ihr Dasein. Die Tante, die mit ihrer Tochter zu dem
Feste ging, hatte dem Alten diese Nacht abgerungen. Und wie in
der schwindsüchtigen Base, die weiß, daß ihr nur noch eine kurze
Spanne des Daseins gegönnt ist, jäh die diesen Leidenden eigen¬
tümliche mannestolle Sinnenlust erwacht, die sie bald wegführt von
der still gewährenden Mutter, so erklingt plötzlich in Marie der Ruf
des Lebens, alles andere übertönend, die Sehnsucht nach dem jungen
Offizier, in dessen Armen sie die Freuden der Ballnacht genossen.
Verbrecherische Wünsche, der Haß gegen den Vater keimen wie eine
vorempfundene Schuld in dem aufgewühlten Herzen; aber
die Qual der sorgenvollen Tage schläfern trügerisch das
brünstige Verlangen ein. Da erweckt die freilich anders
gemeinte Mahnung des sie still liebenden Arztes des Rufes Echo
aufs neue. Und da sie von ihrer Base, die eben von ihrem
Liebsten Abschied genommen, hört, daß die Schwadron der tod¬
geweihten blauen Kürassiere, der ihr Ersehnter angehört, erst am
nächsten Morgen ausrücke, flammt im Rufe des Lebens alle Glut
der Verzweifelten wieder auf. Halb besinnungslos durch die
hämische Brutalität des Vaters reicht sie dem durstenden Alten
einen Schlaftrunk „für hundert Nächte“, und von seiner Leiche
stürzt sie zur Liebesnacht. Aber die Liebesnacht, die ihrer höchsten
Seligkeiten Erfüllung bringt, läßt sie zugleich des Lebens ganzen
Jammer, in einer vom Dichter theatralisch konstruierten Gedrängt¬
heit, durchkosten. Hinter einem Vorhang verborgen wird sie Zeuge,
wie des Obersten junge verführerische Gattin ihren Max vom
sicheren Tod zum Leben locken will, und wie hinter einem andern
Vorhang des Fensters hervor der Oberst ins Zimmer springt und
die Treuiose niederschießt. Während nach dem Abgang
des Obersten
der junge Offizier zur Pistole greift,
tritt Marie hervor, wortlos lächelnd: „Ich bin ge¬
kommen.“ Und, wieder von einer Leiche fort, stürzen
die beiden hinaus zur ersten und letzten Liebesnacht. Nach
diesen dramatischen Effekten folgt, zeitlich einige Wochen später, ein
nachdenklicher stiller dritter Akt, ein weicher und matter Ab= und
Ausklang. Der Arzt hatte in der Wohnung des Alten jede Spur
des Verbrechens getilgt und die fast ohnmächtig heimkehrende Marie
dem Leben gerettet. In dem stillen dörflichen Haus der Tante
verbringt sie in herber, schweigsamer Abgeschlossenheit ihre Tage.
Allein über dem Grausen ob ihrer Vergangenheit fühlt sie mit
leisem Staunen die Sehnsucht zu leben. Der Ruf des Lebens hat
sie nicht ganz vernichtet, und reiner und tiefer tröstet der ärztliche
Räsonneur, wird jener Ruf vielleicht an einem sonnigen Tage aufs
neue ihr in die Seele klingen. So sieht er nicht ohne Hoffnung
den Adjunkten scheiden. Die andere aber, das schwindsüchtige
Bäschen, die dem lockenden Ruf des Lebens zum Liebesgenusse ge¬
folgt war, keyrt, eine hysterische Ophelia, noch liebeglühend vom
letzten Kuß und schon todeswund im Innern, plötzlich heim, um i
Maries und des Arztes Armen ihr Leben auszuhauchen, eine
Sünderin, der vergeben ward.
Das Stück, für das die besten Brahmschen Kräfte aufgeboten
waren, hat nur wenige dankbare Rollen Else Lehmann als still
leidende Mutter bot ein rührendes Bild in ergreifenden Herzens¬
tönen. Rudolf Rittner konnte wenig tun, die farblose Gestalt
des Forstadjunkten stärker zu beleben. Die dankbarste, freilich
gleichfalls episodische Rolle war der Oberst des Herrn
Bassermann, der
in brillanter Maske mit trockener Schärfe
und Pose den Nächer seiner Ehre spielte, ein Spieler im Spiel,
wie er von den anderen charakterisiert wird. Den kranken Alten
gab Herr Marr die schwierige Eintönigkeit seiner Rolle mit
Geschick abstufend. Der Leutnant des Herrn Stieler wußte
über die gefährlichen Klippen seiner Rolle immer noch mit
Geschick hinwegzukommen, und Herr Reicher als Arzt hatte
viel langsame Lehrhaftigkeit. Die Heldin spielte Irene Triesch.
Unter der Starrheit der Gestalt fühlte man das heiße Leben pul¬
sieren und flammend lohte die Leidenschaft auf, jubelnd klang das
Echo des Lebensrufes. Von stummer Beredsamkeit das Lächeln,
wenn sie hinter dem Vorhang hervortritt. In der fast unmöglichen
Rolle der Base erschien zum ersten Male Grete Hosmann (die
Gattin unseres Heldentenors Ernst Kraus), ohne der Opheliennatur
dieses Wesens ein glaubwürdiges schwindsüchtiges Leben einhauchen
zu können; der ungetreuen Overstengattin blieb Else Schiff
manches schuldig. Inszenierung und Kostüme waren vollendet.
Ueber das, was man den Premierenerfolg solchen Abends
nennt, läßt sich eigentlich nichts sagen. Der erste Akt fand stürmi¬
schen Beifall, nach dem zweiten mischte sich einiger Widerspruch da¬
rein, der am Schluß sogar — die disharmonisierende undramatische
Art des Ausklanges mußte zunächst eine Enttäuschung mit sich
bringen — unverkennbar üverwog. Aber nach allen drei Aktschlüssen
konnte Arthur Schnitzler, lebhaft akklamiert, vor dem Vorhang er¬
scheinen.
S
box 24/2
4 Der Ruf des Lebens
Lessing=Theater. Sonnabend zum ersten Male: „Der Ruf
des Lebens.“ Schauspiel in drei Akten von Arthur
Schnitzler.
#####vielleicht kennzeichnend für die moderne Dichtung, daß
schon in ihren Titeln das Leben eine gewisse Rolle spielt. Und in
ihrem Inhalt der Ruf des Lebens. Des Lebens, das die geknechtete
weibliche Seele ruft zur Befreiung aus den engen Fesseln ver¬
alteter Rücksichten, zur Erfüllung der höheren Pflichten gegen die
eigene Persönlichkeit; der Aufschrei der aus der Versklavung jäh
erwachenden Kreaturen, wie der Schrei des brünstigen Hirsches —
das alle Sinnen und Nerven packende elementare sehnsuchtsvolle
Verlangen, nicht nach dem Glück des Philistermenschen, sondern nach
dem eigentlichen Wunderbaren, den höchsten jubelnden Wonnen
selbstvergessenen Sichhingebens. Kein Schuldbewußtsein darin, keine
Reue — nur der verzweifelte Gedanke, es könne zu spät sein. Der
Ruf des Lebens tönt in Schnitzlers Schauspiel; aber das Leben
rechtfertigt seinen Ruf nur schlecht, und ebenso wenig im Grunde
des Stückes exemplifizierender Inhalt seinen allgemeinen Titel.
Ein nicht gut komponiertes Stück, das sich nicht so leicht der
Analyse gibt. Im Kern, wie so viel bei Schnitzler, ein leises nach¬
denkliches Stück, dem äußerliche und krasse Bühneneffekte auf¬
gepfropt sind. Das Werk eines geistvollen, innerlich beschaulichen,
seelensondierenden Dichters, der des Lebens großes Gleichnis geben
will, dann eines geistreichen Konstrukteurs, der kontrapunktisch sein
Thema abwandelt, endlich eines Theatralikers, der mit Gift und Pistolen¬
schüssen operiert und mit Vorhängen, die freiwillig und unfrei¬
willig Lauschende bergen. Ein Stück mit drei Leichen, das doch
keine Tragödie ist. Mit gedrungener, ergreifender poetischer Kraft
einsetzend, durch parallele und andere Episoden retardiert, an¬
steigend zu zwei sich steigernden dramatischen Höhepunkten, einem
echten, einem zweiten unechten, und in der nachdenklichen Betrachtung
eines weichen stillen Schlußaktes matt abfallend zu skeptischen
Lebensweisheiten, die doch mehr tief scheinen als tief sind. Ein
Ausklingen in eine Erkenntnis zwischen melancholischer Resignation
und ruhiger Lebensbejahung: willkürlich und lügenhaft und hin¬
fällig ist die Bewertung der moralischen und der Levensgüter und
aller großen Worte, mit denen sie verkleidet werden, und nur das
Leben selber ist gewiß; wer gestorben ist, ist tot — der Lebende
freue sich des Sonnenscheins. So ungefähr ist der Sinn dessen,
was zum Schluß der Arzt, eine Art Raisonneur des Schauspiels,
als Fazit der Erlebnisse ziebt; er, der unwissentlich den Ruf des
Lebens wieder geweckt hat in der Brust eines jungen Weives, wo
er nahe daran war sich einzulullen, der dann über Mord und buhlerische
Liebesbrunft, aus seiner erfahrenen resimnierenden Skepsis heraus,
den tilgenden Schleier vergebenden Verstehens breitet. War das
erlebte Leben, zu dem es die wunde Seele rief, des Preises der
Schuld am Ende nicht wert, noch immer darf und wird das Leben
locken zu dem Frieden eines stillen Daseins in der Sonne. Der
Dichter aber läßt kontrastierend in den Ruf des Lebens ein zweites
Thema hineingleiten, den Ruf des Todes; und fugenartig, in poctisch
dialektischer Kontrapunktik, verwebt er die Motive zu einem Höhe¬
punkt äußerster Theatralit, wo der Ruf des Lebens selbst in die
Nähe des Todes führt
Das Stück spielt in und bei Wien um die Mitte des vorigen
Jahrhunderts. Marie, des ehemaligen Rittmeisters der blauen
Kürassiere Tochter, vertrauert ihre Jahre in der Knechtschaft des
alten, hoffnungslos kranken, brutal egoistischen Vaters, eines Greises,
der trotz seiner neunundsiebzig Jahre sich an das Leben klammert;
eines Todgeweihten, der vor drei Dezennien einst die nur ihm be¬
wußte Schuld trug, die Flucht des Regimentes im entscheidenden
Kampfe und den Verlust der Schlacht herbeigeführt zu haben. Und so ist
sein Dasein schuld, daß jetzt die blauen Kürassiere als Todgeweihte,
die alte Schuld des Regiments zu fühnen, ausreiten in den Krieg.
Wie eine Gefangene verbringt Marie ihre Tage; vielleicht wird
einmal an der Seite des braven Forstadjunkten ein stilles be¬
scheidenes Glück ihrer harren. Da fällt wie ein Lichtblitz eine
Ballnacht in ihr Dasein. Die Tante, die mit ihrer Tochter zu dem
Feste ging, hatte dem Alten diese Nacht abgerungen. Und wie in
der schwindsüchtigen Base, die weiß, daß ihr nur noch eine kurze
Spanne des Daseins gegönnt ist, jäh die diesen Leidenden eigen¬
tümliche mannestolle Sinnenlust erwacht, die sie bald wegführt von
der still gewährenden Mutter, so erklingt plötzlich in Marie der Ruf
des Lebens, alles andere übertönend, die Sehnsucht nach dem jungen
Offizier, in dessen Armen sie die Freuden der Ballnacht genossen.
Verbrecherische Wünsche, der Haß gegen den Vater keimen wie eine
vorempfundene Schuld in dem aufgewühlten Herzen; aber
die Qual der sorgenvollen Tage schläfern trügerisch das
brünstige Verlangen ein. Da erweckt die freilich anders
gemeinte Mahnung des sie still liebenden Arztes des Rufes Echo
aufs neue. Und da sie von ihrer Base, die eben von ihrem
Liebsten Abschied genommen, hört, daß die Schwadron der tod¬
geweihten blauen Kürassiere, der ihr Ersehnter angehört, erst am
nächsten Morgen ausrücke, flammt im Rufe des Lebens alle Glut
der Verzweifelten wieder auf. Halb besinnungslos durch die
hämische Brutalität des Vaters reicht sie dem durstenden Alten
einen Schlaftrunk „für hundert Nächte“, und von seiner Leiche
stürzt sie zur Liebesnacht. Aber die Liebesnacht, die ihrer höchsten
Seligkeiten Erfüllung bringt, läßt sie zugleich des Lebens ganzen
Jammer, in einer vom Dichter theatralisch konstruierten Gedrängt¬
heit, durchkosten. Hinter einem Vorhang verborgen wird sie Zeuge,
wie des Obersten junge verführerische Gattin ihren Max vom
sicheren Tod zum Leben locken will, und wie hinter einem andern
Vorhang des Fensters hervor der Oberst ins Zimmer springt und
die Treuiose niederschießt. Während nach dem Abgang
des Obersten
der junge Offizier zur Pistole greift,
tritt Marie hervor, wortlos lächelnd: „Ich bin ge¬
kommen.“ Und, wieder von einer Leiche fort, stürzen
die beiden hinaus zur ersten und letzten Liebesnacht. Nach
diesen dramatischen Effekten folgt, zeitlich einige Wochen später, ein
nachdenklicher stiller dritter Akt, ein weicher und matter Ab= und
Ausklang. Der Arzt hatte in der Wohnung des Alten jede Spur
des Verbrechens getilgt und die fast ohnmächtig heimkehrende Marie
dem Leben gerettet. In dem stillen dörflichen Haus der Tante
verbringt sie in herber, schweigsamer Abgeschlossenheit ihre Tage.
Allein über dem Grausen ob ihrer Vergangenheit fühlt sie mit
leisem Staunen die Sehnsucht zu leben. Der Ruf des Lebens hat
sie nicht ganz vernichtet, und reiner und tiefer tröstet der ärztliche
Räsonneur, wird jener Ruf vielleicht an einem sonnigen Tage aufs
neue ihr in die Seele klingen. So sieht er nicht ohne Hoffnung
den Adjunkten scheiden. Die andere aber, das schwindsüchtige
Bäschen, die dem lockenden Ruf des Lebens zum Liebesgenusse ge¬
folgt war, keyrt, eine hysterische Ophelia, noch liebeglühend vom
letzten Kuß und schon todeswund im Innern, plötzlich heim, um i
Maries und des Arztes Armen ihr Leben auszuhauchen, eine
Sünderin, der vergeben ward.
Das Stück, für das die besten Brahmschen Kräfte aufgeboten
waren, hat nur wenige dankbare Rollen Else Lehmann als still
leidende Mutter bot ein rührendes Bild in ergreifenden Herzens¬
tönen. Rudolf Rittner konnte wenig tun, die farblose Gestalt
des Forstadjunkten stärker zu beleben. Die dankbarste, freilich
gleichfalls episodische Rolle war der Oberst des Herrn
Bassermann, der
in brillanter Maske mit trockener Schärfe
und Pose den Nächer seiner Ehre spielte, ein Spieler im Spiel,
wie er von den anderen charakterisiert wird. Den kranken Alten
gab Herr Marr die schwierige Eintönigkeit seiner Rolle mit
Geschick abstufend. Der Leutnant des Herrn Stieler wußte
über die gefährlichen Klippen seiner Rolle immer noch mit
Geschick hinwegzukommen, und Herr Reicher als Arzt hatte
viel langsame Lehrhaftigkeit. Die Heldin spielte Irene Triesch.
Unter der Starrheit der Gestalt fühlte man das heiße Leben pul¬
sieren und flammend lohte die Leidenschaft auf, jubelnd klang das
Echo des Lebensrufes. Von stummer Beredsamkeit das Lächeln,
wenn sie hinter dem Vorhang hervortritt. In der fast unmöglichen
Rolle der Base erschien zum ersten Male Grete Hosmann (die
Gattin unseres Heldentenors Ernst Kraus), ohne der Opheliennatur
dieses Wesens ein glaubwürdiges schwindsüchtiges Leben einhauchen
zu können; der ungetreuen Overstengattin blieb Else Schiff
manches schuldig. Inszenierung und Kostüme waren vollendet.
Ueber das, was man den Premierenerfolg solchen Abends
nennt, läßt sich eigentlich nichts sagen. Der erste Akt fand stürmi¬
schen Beifall, nach dem zweiten mischte sich einiger Widerspruch da¬
rein, der am Schluß sogar — die disharmonisierende undramatische
Art des Ausklanges mußte zunächst eine Enttäuschung mit sich
bringen — unverkennbar üverwog. Aber nach allen drei Aktschlüssen
konnte Arthur Schnitzler, lebhaft akklamiert, vor dem Vorhang er¬
scheinen.
S