II, Theaterstücke 19, Der Ruf des Lebens. Schauspiel in drei Akten (Vatermörderin), Seite 108

19. Der Ruf des Lebens
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Der Ruf des Todes.
Tode der Sühnopfer für jene Schuld, auch ihrer Heldentat
und formt und gießt sie um und spielt mit ihr, weil bereits
Von
at
die Sonne eines anderen Tages scheint. Der Todesschrei
H. Leoster.
von Helden ist kaum verklungen und schon fragt einer, ob
In den „Kindern der Sonne“ sagt Gorki einmal, die
es nicht betrunkene Narren waren. Dafür mag die Sonne
Furcht vor dem Tode hindere die Menschen, kühn, schön
aus den Gräbern witzloser Feiglinge langgrünenden Lorbeer
emporzaubern..
und frei zu sein. Das ist eines von den Worten, die wie
ein Erlebnis wirken, die sich in uns eingraben und uns
Aus den Voraussetzungen für die Komödie des Weiter¬
zwingen, unser Leben nach ihrer Formel zu revidieren.
lebens nach der Stunde, in der sich Leben und Tod um¬
Aber deshalb muß solch ein Wort noch keine Wahrheit ent¬
armen, hat Schnitzler ein bis zur Schlußszene des zweiten
halten. Und ein Wort, das die Weisheit des Gegenteils
Aktes fast einwandfreies dramatisches Fragment geschaffen.
lehrt, könnte ebenso viele gleichgestimmte Saiten in uns
Die kunstvolle Konstruktion des Einzelfalles, die in früheren
mittönen lassen. Wie sind die Menschen, wenn sie wissen,
Stücken seinem Beispiel die beste Kraft gefährdete, weil sie
daß sie kurz vor dem Tode stehen? daß sie nach drei Jahren,
zu artistisch wirkte, wird diesmal zu Gewinn. Wundervoll
nach einem Jahr, nach einer Woche, nach einem Tag, nach
sind die Fäden zum neubelebten Schicksalsgedanken ver¬
einer Stunde sterben werden? Das ist das Lieblingsthema
woben. Mariens Vater hat die Schuld auf sich ge¬
Arthur Schnitzlers. Episch und dramatisch, in Prosa und in
laden, um die nun so viel junges Blut sühnend
Versen hat er seinen Geschöpfen schon alle Fristen gestellt,
sich selbst hingießt. Wie ein Stärkeres, das vorher garnicht
sie in wallenden Prunk=Gewändern, in knappen farbigen
in ihm selbst gelebt hat, überfiel es ihn damals; auch ihn
Uniformen und in grauen Alltagskleidern den Ruf des Todes
rief plötzlich das Leben; leben wollte er, Weib und Kind
hören lassen, um ihnen den Schrei des Lebens zu entlocken;
haben. Da floh er vor der Schlacht. Und das Weib ver¬
hat ihr tropfenweise versickerndes Blut in blumenbekränzten
achtet ihn, das Kind quält er, noch immer am Leben klebend,
Schalen aufgefangen und den Sauerstoff eines ganzen und sie duldet es, bis ein Leutnant von den blauen
Lebens in ihre letzten Atemzüge gepreßt. Aber nur Kürassieren, gerade da sie ausziehen, um das zu sühnen,
eine, eine einzige hat er bisher um das Ende dem Marie ihr Leben verdankt, sie unwiderstehlich an sich
betrogen: Marie Moser, die Heldin seines letzten
lockt. Weil der Alte zwischen Marie und ihrem von ihm selbst
Schauspiels „Der Ruf des Lebens“. Sie läßt er das Leben
ausgehenden Schicksal steht, muß er fort, und er, der sich
in letzten Stunden der anderen vom Abgrund der Vernich¬
hämisch freute, daß er die Jungen überleben werde, stirbt
tung pflücken und dann weiterleben. Als sie glaubte, daß als erster von den blauen Kürassieren den Sühnetod für
ihr der Ruf des Lebens unwiderstehlich erschalle, da rief sie
alte und neue Schuld. Und weil Marie erst über seine
in Wahrheit der Tod und lockte sie, das Leben im Feuer¬
Leiche zu ihrem Schicksal konnte, kommt sie zu spät. Darum
werk einer Nacht erglänzen und dahinrauschen zu lassen.
muß die Frau des Obersten vor ihren Augen sterben, darum
Und obgleich sie das Schärfen seiner Sense für die Fanfare
ist Max nicht mehr der Soldatentod vergönnt. So „fallen
des Lebens hielt, war sie bereit, den Anfang an das Ende
Schicksale über die Menschen wie Räuber her“ und ganz
zu knüpfen. Sie verscherzte das Leben vor sich und der Welt,
wie in der antiken Tragödie wird die Schuld des Ahnherrn
als sie es mit gierigen Armen an sich zu pressen versuchte,
zum Schicksal für ein Geschlecht und alle, die dessen Weg kreuzen.
und die eigene Todesentschlossenheit war es, die ihre Pulse
Das Leben wertet achtlos und spielerisch Schuld und
fliegen ließ und dem Vater den Todestrank kredenzte, weil Verdienste um, aber es kann das mechanische Fortwirken
sein Lebenshunger sie an der Sättigung hinderte. Dann eines Geschehnisses nicht aufhalten, das blind Taten und
gab ihr das Leben an der Schwelle des Todes eine Parade= Ereignisse zeugt, gute und böse, gleichgültig, ob Schuld oder
vorstellung mit den protzartigsten Knalleffekten, die es auf
Verdienst am Eingang standen.
Lager hatt den Mord am Vater, die fieberische Jagd zum
Prächtig gelingt es Schnitzler, den ewigen Sieg der
Geliebten, das Betrogensein vor dem Geliebtwerden, das
Alltäglichkeiten des Lebens über die Gewalt des Todes¬
Zittern für den Mann, den Anblick fremden Sterbens, die
gedankens auch in den Nebenfiguren plastisch werden zu
Angst verschmäht zu werden, die Schauer der Erfüllung, lassen. Wie z. B. „die Tante Richter“ im ersten Akte
die Raserei einer Liebesnacht und die Schmach des
Marie erzählt, daß sie nun auch ihre letzte Tochter sterben
Morgens, den Schmerz des Verlustes und den Gang sehen müsse und dabei in demselben Atemholen die Wolle
zur Sühne des Lebens — wahrhaftig,
sie hat ihr lobt, die sie beim „türkischen Sultan“ zum Kissen für den
Eintrittsgeld nicht umsonst bezahlt! Und noch mehr: Diwan, wo sie im Sommer immer den Kaffee trinken, ge¬
Was sie für das vollendete Drama nahm, war nur eine kauft hat, — das präludiert der Weisheit letzten Schluß im
Art Vorspiel, eine Katastrophe am Beginn — das Stück
Abgesang dieses Dramas meisterhaft. Die Steigerung in
war im Aufbau verfehlt. Aber auch solche Stücke werden
der Motivierung des Vatermordes ist überzeugend, nur
zu Ende gespielt. Und sie ertappte sich dabei, daß sie scheint mir die Retardierung nach dem Eingießen des
sogar mit der Zeit wieder einiges Interesse daran fand, daß Giftes — nach dem Entschluß also
durch die
sie an mancher Situation, an manchem Wort Gefallen fand, etwas zu
impressionistisch angelegte Erzählung des
daß sie nach dem Anblick des Grauenhaften noch lächeln
Alten von seiner Flucht aus der Schlacht
— bedenk¬
konnte, daß man auch „aus einem solchen Schicksal wieder
lich; hier quält den Zuschauer alles, was nicht ersicht¬
emportaucht wie aus einem wilden Traum — und wacht
lich der Katastrophe zudrängt. Würde Marie erst
und lebt und sich sehnt zu leben.“
durch die Erzählung vom letzten Zögern befreit, dann käme
Aber dieses Drama nach der Katastrophe ist uns
kein Motiv gleichsam der Tat nachgehinkt. Von im¬
Schnitzler diesmal noch schuldig geblieben. Er hat es uns
ponierender Knappheit und edelster Schlagkraft ist die
gezeigt, uns erzählt, daß seine Seele davon erfüllt ist und
Szene zwischen Max und dem Obersten am Fenster; es
seine Kunst dafür heranreift, er hat es versprochen. Dies¬
gibt nicht viel, was ihr auf der deutschen Bühne an
die Seite
mal hat er das Thema seines bisherigen Schaffens zu
stellen wäre. Dagegen fällt die
einem Ende gebracht, das die Ueberwindung dieses Stoffes
Szene zwischen Max und Irene stark ins Konven¬
bedeutet. Er läßt uns hier auch hoffen, daß er sich von tionelle hinab; die Frau Oberst ist ein totes Requisit.
der Ueberschätzung des rein Erotischen befreien wird. Diese Erst mit dem Sprung des Obersten durchs Fenster ins
Verheißung glaubte ich schon aus dem „Zwischenspiel“
Zimmer gewinnt Schnitzler die frühere Höhe wieder. Die
heraushören zu dürfen. Dort ist auch das neue Thema
Schlußszene des zweiten Aktes leidet an ihrem Parallelis¬
schon angedeutet, das diesmal dort sichtbar,
mus mit der des ersten und wirkt verwirrend; das Weg¬
— wenn
auch noch nicht lebendig — wird, wo die dramatische
laufen des Paares in den Kasernenhof vermittelt die
Kraft des Dichters erlahmte: die physische Um¬
Situation nicht. Auch hat man nicht Zeit, sich vorzustellen,
wertung aller psychischen Lebenswerte. Das ist natürlich
daß die beiden an einander warm werden. Das müßte trotz
bloß ein neues Gewand für etwas sehr altes; man könnte
alledem und alledem an der Leiche geschehen. „Ward je in
dafür zwei Gemeinplätze setzen, wenn man sich nicht gerade
solcher Laun' ein Weib gefreit?“ Das hat Shakespeare ge¬
bei solchen das Denken abgewöhnt hätte: „Die Zeit heilt
wagt. Schon Francillon macht sich zwar darüber lustig,
alle Wunden" und „Es ändern sich die Zeiten und
daß die Männer stets zur Liebe bereit sind, so oft sie eine
wir mit ihnen". Aber vielleicht ist es gut, manches
Frau freundlich anblickt; aber dem Herrn Leutnant, so sollte
ein wenig unverständlich zu sagen, um es verständ¬
man meinen, dürfte für den Augenblick doch die erotische
Stimmung fehlen. Man würde es begreifen, wenn er
licher zu machen. Nicht die Zeit heilt die Wunden,
sondern Hunger, Durst, Müdigkeit, Krankheit, Genesung,
Marie mit dem bitteren Hohn heimzuschicken versuchte, daß
neue Wunden, die Sonne, der Wald, die Blumen
sie nun doch zu spät gekommen sei, und wenn sie ihm dann
entgegenschrie, sie habe ja erst einen Vater morden müssen!
heilen sie. Es gibt auch diesmal ein einfaches Wort dafür,
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