II, Theaterstücke 19, Der Ruf des Lebens. Schauspiel in drei Akten (Vatermörderin), Seite 142

19. Der Ruf des Lebens
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Der Vater wird zu Bett gebracht, und der Adjunkt kommt plötzlich Katharina zurück, die verschwunden war.
benutzt den Augenblick, in dem er sich allein mit Marie
Sie hat während ihrer Abwesenheit den Verstand ver¬
befindet, um seine Werbung vorzubringen. Marie weist loren, und ein sanfter Wahnsinn spricht aus ihr wie aus
ihn ab, und zwar aus seltsamen Gründen. Sie vermag Ophelia. Der Arzt führt sie ins Haus zu ihrer Mutter.
nicht eine Frau zu werden, weil sie eine Buhlerin und
Marie und der Adjunkt bleiben allein zurück. Der
Mörderin ist — vorläufig allerdings nur in Gedanken,
Adjunkt erneuert seine Werbung. Marie erzählt ihm, was
aber es find nicht moralische Skrupeln, sondern es ist nur
sie in jener Nacht erlebt hat, und enthüllt ihm so, daß sie
der Mangel an Mut, der sie bisher verhindert hat, ihre
nun wirklich eine Buhlerin und eine Mörderin ist. Der
Gedanken zur Tat werden zu lassen. Einmal ist sie im
Adjunkt scheidet von ihr, ohne sie zu verdammen. Marie
Winter auf einem Ball gewesen und hat die Nacht mit
vertraut dem Arzt an, daß sie trotz des Furchtbaren, das
einem jungen Offizier vertanzt. Obwohl sie ihn seitdem
sie erlebt hat, immer noch von Sehnsucht nach dem
nie wiedergesehen, träumt sie von nichts als davon, in
Leben erfüllt ist; der Arzt eröffnet ihr die Hoffnung, daß
seinen Armen zu liegen, als seine Buhlerin; und um zu
diese Sehnsucht nach Leben vielleicht doch noch einmal
dem Manne eilen zu können, nach dem alle ihre Sinne
Erfüllung, eine schöne und reine Erfüllung finden wird.
schrnachten, hat sie nicht aufgehört, ihrem Vater den Tod
Das Stück schließt mit dem Tode Katharinas, die aus
zu wünschen, um endlich ihre Freiheit zu erlangen. So
dem Hause herauskommt, weil sie glaubt, ihr Geliebter
ist sie in Gedanken auch eine Mörderin gewesen. „All das
führe sie nach einer Wiese, und im Garten sterbend
sind Träume, die verwehen werden,“ sagt der Adjunkt
niedersinkt.
und verläßt sie.
Schnitzlers Schauspiel, das, wenn man
Katharina, Maries Cousine, tritt auf, ein schönes,
es liest, den Eindruck macht, als sei es sehr
junges Mädchen, wie diese, aber dem Tode geweiht. Sie
bühnenwirksam gearbeitet, übte bei seiner heutigen
ist schwindsüchtig und muß sterben. Sie ahnt ihren
Aufführung im Lessing=Theater nicht
er¬
baldigen Tod und will nun wenigstens nicht dahingehen,
wartete Wirkung aus. Nur der erste Akt hatte.
ohne gelebt zu haben. Darum hat sie die Nacht mit ihrem
einen vollen Erfolg und brachte dem Autor starken Bei¬
Geliebten verbracht. Er ist gleichfalls Offizier bei den
fall und einen mehrmaligen Hervorruf. Die Szene im
blauen Kürassieren, ein Freund desjenigen, nach dem
zweiten Akt, in welcher der Oberst so unvermutet seine
Marie sich sehnt. Sie hat auch diesen gesprochen, und
Frau erschießt, verblüffte mehr, als daß sie packte. Nach
er läßt Marie sagen: „Sie hätte mich nicht sollen warten
Schluß des Aktes mischte sich einig Opposition in
lassen.“ Zugleich erfährt Marie durch Katharina, daß die
Beifall und Hervorrufe, und nach dem deltten Akt wurde
Schwadron, zu der die beiden Offiziere gehören, noch
zwar auch applaudiert und der Antor wurde auch hervor¬
in Wien ist und erst am nächsten Tage ausrücken wird.
gerufen, aber die Opposition war noch stärker.
Das Beispiel Katharinas bringt Maries Entschluß
Nicht wenig Schuld am Ausbleiben eines vollen Er¬
zur Reise. Sie bleibt allein mit dem Vater. Der Vater
folges trugen die mangelhaften schauspielerischen Leistun¬
erzählt ihr, daß er es war, der vor dreißig Jahren die
gen. Am besten spielte Irene Triesch, die in der Rolle
Fluck der blauen Kürassiere verschuldet hat, weil ihn der Marie Freilich nur stellenweise Gelegenheit fand, ihre
plötzlich eine wahnsinnige Angst befiel. Nach dieser Er= ganze schauspielerische Kraft einzusetzen, ferner Grete
zählung verlangt er zu trinken. Marie schüttet in sein Hoffmann, die eine liebliche und rührende Katharina
Glas den ganzen Inhalt eines Fläschchens, das der
war, und Emanuel Reicher, der den Arzt ausdrucksvoll
Arzt gebracht hat und das ein Gift enthält, von dem
sprach. Hingegen versagte Rittner völlig in der Rolle
einige Tropfen den Schlaf bringen, das aber tödlich wirkt,
des Adjunkten. Kurt Stieler und Max Neuß, welche
wenn man allzu viel davon trinkt. Der Vater leert das
die beiden jungen Offiziere spielten, waren recht unge¬
Glas und bricht tot zu
men. Marie eilt davon, dem
nügend, und Bassermann blieb gänzlich farblos in
Ruf des Lebens zu fol
der Rolle des Obersten, die allerdings auch vom Autor
Der zweite Akt spielt im Zimmer des Offiziers Max
nicht viel Farbe erhalten hat. Die Ausstattung war reich
#und geschmackvoll.
in der Kaserne der blauen Kürassiere. Der Oberst spricht
mit Max durch das Fenster (das Zimmer liegt im
Erdgeschoß). Das Gespräch bewegt sich zuerst in Andeu¬
tungen, am Ende aber stellt der Oberst dem jungen
Offizier eine Gewissensfrage. Er spricht nicht direkt aus,
was er meint, doch man begreift, daß der Oberst wissen
will, ob zwischen seiner Frau und Max andere als
freundschaftliche Beziehungen bestehen. Max verneint, der
Oberst geht. Es folgt ein Gespräch zwischen Max und
Albrecht, dem Geliebten Katharinas, der nicht einzusehen
vermag, weshalb er sterben soll für eine Schuld, die an¬
dere vor dreißig Jahren begangen haben, und allerlei
Gedanken über den Tod äußert. Die beiden Offiziere ver¬
lassen das Zimmer. In diesem Augenblick stürzt Marie
herein und verbirgt sich hinter einem Vorhang. Max kehrt
zurück, begleitet von Irene, der Frau des Obersten. Max
sagt ihr, wie bitter er es bereut, den Obersten belogen zu
haben. Irene sucht seine Bes enken zu zerstreuen und
macht ihm dann den Vorschlag, daß er mit ihr entfliehen
soll. Max soll mit seiner Schwadron ausrücken, soll dann
in Wiener=Neustadt krank werden, soll nach der unga¬
rischen Grenze kommen, wo Irene ihn erwarten wird, und
soll mit ihr ins Ausland gehen. Max weist den Vorschlag
zurück. Da springt plötzlich der Oberst durchs Fenster,
wechselt einige wenige Worte mit den beiden Schuldigen
und schießt seine Frau nieder. Max bittet, ihm auch den
Tod zu geben. Der Oberst schlägt es ihm ab und deutet
in, daß Max bis zum nächsten Morgen selbst sich das