19. Der Ruf des Lebens
box 24/2
Die Schaubühne
246
Der (Ruf des Zebens.
Ich muß den persönlichen Bemerkungen, die man eine Kritik
zu nennen pflegt, eine allerpersönlichste Bemerkung voraufschicken.
Als ich, vor ein paar Wochen, Schnitzlers neues Schauspiel las,
wurd ich stark bewegt. Als ich die Besetzung des Lessing=Theaters
erfuhr, fürchtete ich, daß sie das Stück ruinieren würde, und be¬
schloß, es wenigstens mir nicht ruinieren zu lassen und der Auf¬
führung fernzubleiben. Ich habe nicht Wort gehalten und unter
Schmerzen mitangesehen, wie meine Befürchtungen weit über¬
troffen wurden. Das Stück hat keinen Erfolg gehabt und —
was damit in gar keinem Zusammenhang zu stehen brauchte —
hat auch mir keinen tiefen Eindruck gemacht. Die Frage ist: bin
ich kühl geblieben, weil ich von vornherein gewiß war, vor
diesen und jenen Schauspielern unter allen Umständen kühl zu
bleiben, oder haben sich auf der Bühne sichere Wirkungen des
Buches als unwirksam, mehr oder minder ernste Gefahren als
tödlich erwiesen? An den Schauspielern allein kann es — davon bin
ich nach erneuter Lektüre überzeugt — nicht liegen, und es wird
zu unterscheiden sein, welche Elemente in Schnitzlers Dichtung
undichterisch sind, welche der Kunstform des Dramas und dem
besondern Wesen der Bühne widerstreiten, und welche von der
einzelnen Aufführung dieser einen Bühne nicht bewältigt wurden.
Marie Moser lechzt nach Leben, nach Liehe. Der Mann,
den sie einmal gesehen und nie mehr vergessen hat, wird am
nächsten Tag in den unentrinnbaren Tod reiten und wartet auf
sie. Sie vergiftet ihren achtzigjährigen schwerkranken Vater, der
sie gewaltsam an sein Lager gefesselt hält, und stürzt zum Ge¬
liebten in die Kaserne. Dort muß sie, hinter einem Vorhang
versteckt, erleben, „wie Frauen betrügen, locken, lügen, ehrlich
sind und sterben, wie Männer zittern, spielen, höhnen und töten“.
Sie sieht, wie der Oberst ihrem Max seine Irene erschießt, weil
sie zufällig Frau Oberstin ist. Das hindert Marien nicht, den
Leutnant in ihre Arme zu reißen und ein einziges Mal glücklich
zu sein, „wie kein menschliches Wesen jemals war.“ Am nächsten
Morgen erschießt Er sich für die andre und läßt sie in Reue und
Verzweiflung zurück. In der Natur wird sie sich langsam zu
einem neuen, stillen, lichteren und leichteren Leben durchfinden ....
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Die Schaubühne
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Der (Ruf des Zebens.
Ich muß den persönlichen Bemerkungen, die man eine Kritik
zu nennen pflegt, eine allerpersönlichste Bemerkung voraufschicken.
Als ich, vor ein paar Wochen, Schnitzlers neues Schauspiel las,
wurd ich stark bewegt. Als ich die Besetzung des Lessing=Theaters
erfuhr, fürchtete ich, daß sie das Stück ruinieren würde, und be¬
schloß, es wenigstens mir nicht ruinieren zu lassen und der Auf¬
führung fernzubleiben. Ich habe nicht Wort gehalten und unter
Schmerzen mitangesehen, wie meine Befürchtungen weit über¬
troffen wurden. Das Stück hat keinen Erfolg gehabt und —
was damit in gar keinem Zusammenhang zu stehen brauchte —
hat auch mir keinen tiefen Eindruck gemacht. Die Frage ist: bin
ich kühl geblieben, weil ich von vornherein gewiß war, vor
diesen und jenen Schauspielern unter allen Umständen kühl zu
bleiben, oder haben sich auf der Bühne sichere Wirkungen des
Buches als unwirksam, mehr oder minder ernste Gefahren als
tödlich erwiesen? An den Schauspielern allein kann es — davon bin
ich nach erneuter Lektüre überzeugt — nicht liegen, und es wird
zu unterscheiden sein, welche Elemente in Schnitzlers Dichtung
undichterisch sind, welche der Kunstform des Dramas und dem
besondern Wesen der Bühne widerstreiten, und welche von der
einzelnen Aufführung dieser einen Bühne nicht bewältigt wurden.
Marie Moser lechzt nach Leben, nach Liehe. Der Mann,
den sie einmal gesehen und nie mehr vergessen hat, wird am
nächsten Tag in den unentrinnbaren Tod reiten und wartet auf
sie. Sie vergiftet ihren achtzigjährigen schwerkranken Vater, der
sie gewaltsam an sein Lager gefesselt hält, und stürzt zum Ge¬
liebten in die Kaserne. Dort muß sie, hinter einem Vorhang
versteckt, erleben, „wie Frauen betrügen, locken, lügen, ehrlich
sind und sterben, wie Männer zittern, spielen, höhnen und töten“.
Sie sieht, wie der Oberst ihrem Max seine Irene erschießt, weil
sie zufällig Frau Oberstin ist. Das hindert Marien nicht, den
Leutnant in ihre Arme zu reißen und ein einziges Mal glücklich
zu sein, „wie kein menschliches Wesen jemals war.“ Am nächsten
Morgen erschießt Er sich für die andre und läßt sie in Reue und
Verzweiflung zurück. In der Natur wird sie sich langsam zu
einem neuen, stillen, lichteren und leichteren Leben durchfinden ....