II, Theaterstücke 19, Der Ruf des Lebens. Schauspiel in drei Akten (Vatermörderin), Seite 167

19. Der Ruf des Lebens
box 24/2
248
Die Schaubühne
moto. Aber ein Drama ist keine Symphonie. Neben diesem
Hauptirrtum sind die technischen Ungeschicklichkeiten beinahe un¬
wesentlich: daß an jedem der drei Aktschlüsse einer oder eine tot
zu Boden fällt, und daß im zweiten wie im ersten Akt dieselbe
Marie von verschiedenen Leichen zur Liebesfeier stürmt.
Da geht freilich die Technik des Schauspiels bereits in die
Ethik über. Es ist unanfechtbar, weil lückenlos begründet, daß
diese Marie das Scheusal von Vater tötet. Aber es ist höchst un¬
erfreulich, wie nicht nur in dieser Marie, sondern in fast allen
diesen Menschen der nackte Trieb vorwaltet. Schnitzler ist früher
feiner oder größer gewesen. Die Eheleute im „Zwischenspiel“ sind
Erotiker bis über die Ohren, aber daneben geniale Musiker und
die empfindlichsten, reinsten Seelen. „Der Schleier der Beatrice“
ist vom lebenbejahenden, sinnetrunkenen Geist der Renaissance er¬
füllt. Glut lodert und Blut strömt durch dieses Drama, das ein
Volk am Vorabend seines letzten Tages und deshalb in wild ge¬
steigerter Lebenslust zeigt. „Was bist Du für ein Wesen, Beatrice?“
Das ewig verschleierte und ewig lockende Leben. Was bist du für
ein Wesen, Marie Moser? Ich weiß es nicht. Es gilt von ihr
wie von den übrigen neun Personen dieses Schauspiels: nur ihr
Schicksal im allgemeinen ist handgreiflich, nicht ihr Leben und ihr
Wesen im einzelnen. Das ist zu wenig. Die meisten sind sich
nur des einen Triebes bewußt. Ihr Stamm sind nicht jene Asra,
welche sterben, wenn sie lieben, sondern welche lieben, wenn sie
sterben. Es gibt keine andre Sorge. Wäre es wenigstens jene
intimere Erotik, deren unbestrittener Meister Schnitzler in
Deutschland ist! Aber an ihre Stelle ist die pure Sexualität ge¬
treten. „Nie mehr an blühenden Lippen hängen, vom Duft
zitternder Brüste umweht“: das ist das Leit= und Leidmotiv, das
bis zum Überdruß abgewandelt wird. Max und Marie, Marie
und der Adjunkt, der Adjunkt und Katharina, Katharina und
Albrecht, der Oberst und Irene, Irene und Max — es ist ein
Reigen amoureuser Beziehungen, für den der Titel vom „Ruf des
Lebens“ zu reich und der Hintergrund eines todgeweihten Kürassier¬
regiments zu gewaltig ist.
Ich glaube trotz alledem nach wie vor, daß dieser Abstand
durch die Darstellung hätte verkleinert werden können. Statt
dessen wurde er vergrößert. Am ärgsten war es um Katharina
und die Oberstin bestellt. Es gibt bei uns leichter einen Appell