19 Der Ruf des Lebens
box 24/2
Die Schaubühne
vom Buch an die Bühne als von der Bühne ans Buch. Die
wenigsten von denen, die durch die beiden monströsen Weibsbilder
entsetzt worden sind, werden sich in Ruhe vergewissern, daß es
durchaus möglich gewesen wäre, das brünstige Begehren der einen
durch einen Schuß Geist, die krankhafte Liebebedürftigkeit der
andern durch natürlichen, nicht angequälten Charme zu ver¬
menschlichen. Ganz so verderblich war weiter niemand dem Stück.
Aber wie der geistblitzende Dialog auch von bessern Schauspielern
behandelt wurde, das war zum Erbarmen. Das Stück hat einen
Raisonneur. Das gehört nicht zu seinen Vorzügen. Nur wird
man immerhin verlangen dürfen, daß die Worte — die schönsten
der Dichtung sind darunter — sinngetreu gebracht werden. Wenn
Reicher sich ausnahmsweise dazu verstand, so galt zum mindesten
das Goethewort: „Ich höre doppelt, was er spricht, und dennoch
überzeugts mich nicht“. Den alten Moser, der nicht sterben will,
spielte Herr Marr in einer Theatermanier, die wir längst ge¬
storben wähnten. Herr Stieler als Max war — bis auf den einen
Moment, wo er der Ordonnanz durch die geschlossene Tür ver¬
sichert, daß der Schuß nicht in seinem Zimmer gefallen sei
so unfrei wie gewöhnlich, und der lebenshungrige
Freund Albrecht blieb bei Herrn Neuß trocken und
reizlos und war höchstens der Brahmschen, nicht der Schnitzler¬
schen Katharina würdig. Rittner hatte man mit dem Adjunkten
belastet, offenbar nach dem nicht gerade musikalischen Prinzip, daß
eine schwache Tenorpartie besser als bei einem schwachen Tenor bei
einem ausgezeichneten Baß=Bariton aufgehoben sei. Diesen sieben
Gleichgültigen oder Schädlichen standen nur drei Gute, Treue und
Tapfere gegenüber. Die Lehmann schuf aus dem Röllchen der
Tante ein kleines Wunder und entschädigte durch einen Herzens¬
schrei mütterlicher Liebe für vieles schauspielerische Ungemach und
das Übermaß andersgearteter und andersgelegener Liebe. Bassermann
zeigte sich als Oberst von seiner schärfsten und geistreichsten Seite
und erzielte dazu eine packende Bildwirkung. Die Triesch schließlich
tat mit Bravour, was eine Schauspielerin tun kann, die etwas zu
erleben, aber wenig zu sein hat. Alle übrigens brachten durch
das Kostüm des vormärzlichen Alt=Österreich das Zeitkolorit zur
Geltung, das sie im Dialog zu betonen teils mit Recht, teils mit
Unrecht unterließen. Garnicht glücklich schienen mir die Walserschen
Bühnenbilder. Das wirkte wie aus der Spielzeugschachtel, blitz¬
box 24/2
Die Schaubühne
vom Buch an die Bühne als von der Bühne ans Buch. Die
wenigsten von denen, die durch die beiden monströsen Weibsbilder
entsetzt worden sind, werden sich in Ruhe vergewissern, daß es
durchaus möglich gewesen wäre, das brünstige Begehren der einen
durch einen Schuß Geist, die krankhafte Liebebedürftigkeit der
andern durch natürlichen, nicht angequälten Charme zu ver¬
menschlichen. Ganz so verderblich war weiter niemand dem Stück.
Aber wie der geistblitzende Dialog auch von bessern Schauspielern
behandelt wurde, das war zum Erbarmen. Das Stück hat einen
Raisonneur. Das gehört nicht zu seinen Vorzügen. Nur wird
man immerhin verlangen dürfen, daß die Worte — die schönsten
der Dichtung sind darunter — sinngetreu gebracht werden. Wenn
Reicher sich ausnahmsweise dazu verstand, so galt zum mindesten
das Goethewort: „Ich höre doppelt, was er spricht, und dennoch
überzeugts mich nicht“. Den alten Moser, der nicht sterben will,
spielte Herr Marr in einer Theatermanier, die wir längst ge¬
storben wähnten. Herr Stieler als Max war — bis auf den einen
Moment, wo er der Ordonnanz durch die geschlossene Tür ver¬
sichert, daß der Schuß nicht in seinem Zimmer gefallen sei
so unfrei wie gewöhnlich, und der lebenshungrige
Freund Albrecht blieb bei Herrn Neuß trocken und
reizlos und war höchstens der Brahmschen, nicht der Schnitzler¬
schen Katharina würdig. Rittner hatte man mit dem Adjunkten
belastet, offenbar nach dem nicht gerade musikalischen Prinzip, daß
eine schwache Tenorpartie besser als bei einem schwachen Tenor bei
einem ausgezeichneten Baß=Bariton aufgehoben sei. Diesen sieben
Gleichgültigen oder Schädlichen standen nur drei Gute, Treue und
Tapfere gegenüber. Die Lehmann schuf aus dem Röllchen der
Tante ein kleines Wunder und entschädigte durch einen Herzens¬
schrei mütterlicher Liebe für vieles schauspielerische Ungemach und
das Übermaß andersgearteter und andersgelegener Liebe. Bassermann
zeigte sich als Oberst von seiner schärfsten und geistreichsten Seite
und erzielte dazu eine packende Bildwirkung. Die Triesch schließlich
tat mit Bravour, was eine Schauspielerin tun kann, die etwas zu
erleben, aber wenig zu sein hat. Alle übrigens brachten durch
das Kostüm des vormärzlichen Alt=Österreich das Zeitkolorit zur
Geltung, das sie im Dialog zu betonen teils mit Recht, teils mit
Unrecht unterließen. Garnicht glücklich schienen mir die Walserschen
Bühnenbilder. Das wirkte wie aus der Spielzeugschachtel, blitz¬