II, Theaterstücke 19, Der Ruf des Lebens. Schauspiel in drei Akten (Vatermörderin), Seite 169

19. Der Ruf des Lebens
box 24/2
250
Die Schaubühne
blank und funkelnagelneu. Auf diesen Stühlen hatte nie einer
gesessen, dieses Holzgitter hatte nie eine Hand berührt, und eine
Leutnantsstube mag auf dem Monde so aussehen, aber nicht in
Wien. Brahm bleibe Brahm. Ihn kleidet die neue Mode nicht.
Wevrients
Geschichte der Schauspielkunst.
Es ist noch immer das standard-work, diese erste umfassende
Darstellung der deutschen Schauspielkunst. Trotz den Einwänden der ge¬
lehrten Kritik, trotz den Fortschritten der Forschung. Noch immer der beste
Führer auf den verschlungenen Wegen, die das deutsche Theater nehmen
mußte. Denn dieses Buch ist das lebendige Bekenntnis einer tüchtigen
Persönlichkeit und einer hohen Gesinnung. Keine lediglich beschauliche,
innerlich gleichgültige Geschichtsschreibung, große Liebe zur Kunst und
soziales Standesgefühl haben es diktiert. Devrient will wirken, er will
Forderungen erfüllt sehen. Nicht immer ganz glückliche Forderungen.
Der Geist der Zeit — der erste Band erschien in den Stürmen des
Jahres 1848 — ist uns ja ein wenig fremd geworden, so sympathisch
seine Jugendlichkeit berührt. Devrients etwas lehrhaft=rationalistische Be¬
geisterung mutet schon altväterisch an, und seinen unbegrenzten Glauben
an den Staat können wir kaum teilen. Er erwartet sehr viel von staat¬
lichen Theaterakademien, er träumt noch immer den Traum vom deutschen
Nationaltheater und fordert vom Leviathan Staat, daß er das zarte
Seelchen betreue. Er gelangt freilich zu dieser Forderung auf dem Wege,
einer trefflichen Kritik der wirtschaftlichen und künstlerischen Entwicklung
des Theaters im neunzehnten Jahrhundert, im System der freien
Konkurrenz. Hier und auch an andern Orten ist seiner großen wissen¬
schaftlichen Begabung instinktiv gelungen, was unsre Zeit erst bewußt
anstrebt: die Geschichte des Theaters in die allgemeinen sozialen und
wirtschaftlichen Zusammenhänge zu verweben. Und überhaupt kann, wer
über die Worte hinaus, kritisch und weiterdenkend, zu lesen weiß, mannig¬
faches herausholen. Er wird manche Ahnung bestätigt finden über die
Gebundenheit auch des Theaters und seiner Abwandlungen an die
Wandlungen der Kultur, er wird angeregt werden zu manchen Vor¬
stellungen von einer reinen Formen= und Stilgeschichte des Theaters und
der Schauspielkunst: Ziele der Geschichtsschreibung, die klar vor den
Augen der Gegenwart stehen und noch immer nicht erreicht sind.
Die mit vielen Noten versehene neue Ausgabe des lange vergriffenen
Werkes — von Hans Devrient besorgt und im Verlag von Otto Elsner
erschienen — ist aufs wärmste zu begrüßen. Dr. Emil Geyer.