II, Theaterstücke 19, Der Ruf des Lebens. Schauspiel in drei Akten (Vatermörderin), Seite 170

19. Der Ruf des Lebens
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Theater.

Lessing=Theater: „Der Auf des Lebens.“ Schauspiel in 5 Akten von Arthur Schnitzler.
's ist um die Mitte des 10. Jahrhunderts. Dor dreißig
Jahren, in der Schlacht bei Lindach, haben die blauen
Kürassière nicht stand gehalten. Es heißt, daß durch
S
ihre Flucht das Treffen verloren gegangen sei. So
hat nun, da ein neuer Krieg ausgebrochen, der jetzige
Oberst des Regiments die Parole ausgegeben, es gelte die
alte Schmach zu sühnen, das Regiment müsse sich dem Code
weihn. Und so geschieht es. Wie im „Schleier der Beatrice“
stellt Schnitzler die Gestalten seines neuen Schauspiels*) vor
*) Das Buch erschien im Verlag von S. Fischer, Berlin 1906.
den Spiegel des Todes. Angesichts des drohenden Untergangs
lichung der Bühne hebt den Begriff entschwundener Wochen,
wird ihnen das Leben lauter rufen.
mählich erblühter Bäume für den Zuschauer auf. Für ihn ist
Die Tochter eben des Mannes, der damals Schuld ge¬
alles in einen engen Kreislauf eingeschlossen. Schnitzler greift
tragen, daß das Regiment seinen Dosten in feiger Flucht ver¬
in diesem dritten Akte — ein Fehler, den er oft begeht — aus
ließ, liebt einen der todgeweihten Offiziere. Ihr Herz gehört
dem Bereich des Dramas in das des Romans hinüber. Er
ihm, ihre Sinne fiebern nach ihm, obwohl sie nur ein einziges¬
verliert damit die Möglichkeit, dichterische Kraft zu betätigen,
mal mit ihm zusammengewesen. Der alte, kranke Dater aber
und rettet nur das Ansehen des belehrenden Referenten. Er
hält sie in strenger Haft. Keinen Schritt darf sie von seiner
predigt, anstatt zu gestalten. Der Raisonneur übernimmt die
Seite weichen, bei Tage nicht und nicht bei Nacht. Wie ihn die
Führung. Hier aber stellt sich noch ein Bedenken ein. Schnitzler
Krankheit quält, so quält er sie. Mit dem Leben zerfallen und
faßt Mariens Verbrechen als eine Tat der Selbstbefreiung auf;
doch sich an das Dasein klammernd, ist es ihm eine Wollust,
das ist sein gutes, dichterisches Recht. Es wäre auch durch¬
ihre Gefühle zu verletzen, ihre Geheimnisse auszuschreien, sie
führbar gewesen, im Roman zu zeigen, wie sie die Tat innerlich
sklavisch zu erniedrigen. Er weiß, daß sie ihm den Tod wünscht,
überwand. Aber es ist vielleicht kein Zufall, daß sich das
und eben das trägt dazu bei, ihm sein Leben teurer zu machen.
Drama solcher Entwicklungsmöglichkeit entgegenstellt. Das
Nun aber ist die letzte Nacht gekommen, die sie mit dem Ge¬
Drama, scheint es, verlangt aus seinem inneren Wesen heraus
liebten vereinigen könnte. Sie muß frei sein! Ihr Entschluß
eine andere Moral. Die der Gebundenheit anstelle jener der
ist gefaßt. Sie gibt dem Dater das Schlafmittel so reichlich,
freien Selbstbestimmung.
daß für ihn kein Aufwachen mehr ist. Don seiner Leiche stürzt
So zerrinnt hier vieles. Es trat mir schon im „Zwischen¬
sie fort, den Geliebten zu suchen.
spiel“ entgegen, ohne daß ich es aussprechen mochte, doch wird
Indem sie dessen Zimmer betritt, schreitet sie gleichsam in
der Eindruck diesmal stärker: Schnitzlers Charakteristik blaßt
ein zweites Drama hinüber. Der junge Offizier hat ein Ver¬
ab. Diele der Gestalten des neuen Schauspiels sind zu Be¬
hältnis mit der Frau seines Oberst unterhalten. Bei einem
griffen, sei es zu sehr geistreichen, verflüchtigt. In einer
Stelldichein werden beide vom Oberst überrascht, der Ehemann
aber lebt seine Schöpferkraft in aller Frische wieder auf.
schießt seine Gattin nieder. Marie hat das alles versteckt mit¬
Diese eine ist der Oberst. Er gehört zu jenen Menschen,
angesehen, aber auch das vermag ihren Entschluß nicht umzustoßen.
die der Wiener Dichter liebt, den großen Egoisten, die zugleich
Die Frist, die der Tod gesteckt, ist kürzer geworden, das Leben
große Lebenskünstler sind. Herr von Sala steht ihm nicht fern.
will sein Recht, es gilt seine Wonnen ein letztesmal gierig zu
Doch sind dem Typus diesmal ganz neue, individuelle Züge
schlürfen, und die Liebenden kosten sie aus. Die Nacht ist vor¬
abgewonnen. Dieser Oberst spielt mit den Menschen. Er
über, der Offizier erschießt sich selbst, den Mord an der Frau
hat das Liebesgehäkel des kleinen Leutnants mit seiner kleinen
des Oberst auf sich zu nehmen, Marie geht dem Leben ent¬
Frau lange Zeit ruhig, wissend mit angesehen. Kühl, überlegt
gegen.
stellt er den jungen Mann, fordert Rechenschaft und läßt sich,
Es stecken zwei dramatische Kerne in der Schale von
scheint es, das Opfer aus seinen Händen entschlüpfen. Im
Schnitzlers neuem Drama. All. diese Geschehnsse, innerlich
rechten Augenblick ist er wie der Tiger mit einem Sprung bei
schwer zu überblicken, sind in zwei Akte hineingepreßt. Taten,
seiner Beute. Die kleine Frau, sein eigenes Weib, wird mit
vor denen es wie ein Abgrund klafft, geschehen in drängender Eile.
einem Epigramm abgetan. Der junge Mann darf weiter¬
Aber nicht die Tat ist von Belang für uns, sondern ihr
atmen, den Mord auf sich zu nehmen. „Es wäre menschlicher
innerliches Wachsen im Menschenherzen. Wie gewinnt es
gewesen, es in einem abzutun, sagt der Jüngling. „Mensch¬
Marie über sich, dem Dater das Gift zu reichen? Es fehlt
licher — ja. Aber das lag nicht in meiner Absicht.“
an Anlässen nicht. Sie haßt den Dater und hat beinahe ein
Recht dazu, ihm den Tod zu wünschen. Die Stunde drängt.
Diesem großen, kalten und egoistischen Lebenskünstler aber
Der Arzt des Hauses hat ihr das Verbrechen nahegelegt.
ist sein Leben dennoch unter den Fingern entglitten. Sein
Beruf hat ihm gelogen. Um Kriegsdienste zu tun, war er bei
Eine Freundin, die, den sicheren Tod an der Schwindsucht vor
der Armee eingetreten, aber es wurde und es blieb Friede. Wie
Augen, sich jedem Genusse hingibt, stärkt den Lebensdrang in
ihr. Der Dater macht sich ihr im entscheidenden Augenblick
ein Advokat, der nur mit gemalten Verbrechern zu tun hätte,
kommt er sich vor. Nun ihm endlich die Gelegenheit
verächtlicher. Aber das alles sind doch nur Anlässe, die Tat
wird, sein Handwerk zu üben, am lebenden Material, soll sie
näherzubringen. Man muß Mlörderin sein, um zu morden, oder
ein schwerer, wechselvoller, innerer Kampf muß vorangehn.
ihm nicht wieder ungenossen fliehn. Denn es kommt vor,
Dem aber ist hier nicht so. Dies Verbrechen wirft keine
daß Regimenter nicht ein einziges Mal im Feuer stehen.
Davor bewahrt zu sein, einen guten Abgäng zu gewinnen und
Schatten vorauf. Und man fragt weiter: Wie kann der junge
gleichzeitig dem albernen Betrugsspiel seiner dummen Frau ent¬
Offizier es über sich gewinnen, sich den Tod der Frau, die
seinetwillen erschossen wurde, so ganz aus dem Sinn zu schlagen,
hoben zu werden, erfindet er die Fabel, daß es notwendig
daß er fähig ist, neue Liebe mit einer anderen auszugenießen?
sei, die vor dreißig Jahren der Fahne angetane Schmach mit
dem Tode aller zu sühnen.
Mag man es Marie glauben, daß sie, an einer Leiche vorüber¬
gegangen, der des eigenen Daters, durch die zweite nicht fürder
Hiermit nun, als hätte man einen Gipfel erstiegen, er¬
zurückgehalten wird, — aber er, der Mitschuldige? Hier nun
öffnen sich ganz neue Ausblicke auf Schnitzlers Drama. Eine
fehlt jede Motivierung, auch jene äußerliche, die Charakteristik
Ferne tut sich auf. Reichtümer blinken. Man sieht die Dinge
gibt keinen Aufschluß. So sinken die dramatischen Vorgänge
wie im hellen Licht der Wirklichkeit, das bei oder trotz seiner
in Schnitzlers neuem Drama, so gewaltsam sie äußerlich sind,
Helle nie erkennen läßt, wie sie in Wahrheit gestaltet sind.
auf den Wert von Chronikenfakten hinab.
Die Luft, die allzeit bewegliche, das Ungewisse alles Menschen¬
Marie geht, nachdem die Nacht ihres Schicksals dem
seins ist gleichsam mitgemalt.
Alorgen gewichen, einem neuen Leben entgegen. Waren die
Hier gibt Schnitzler aus seinem Eigensten. Also, — die
beiden ersten Akte mit äußerer Handlung übersättigt, so schlägt
Notwendigkeit des Todesritts ist eine Fabel. Der alte kranke
der dritte die stillen Pfade beruhigender Betrachtung ein.
Mann, Mariens Dater, der wie ein Geizhals am Leben hängt,