19. Der Ruf des Lebens
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Zwei Akte lang führt uns dieses neue,
adjunkt, der ihre Base, ein schwindsüchtiges
innerlich gespaltene Schauspiel durch furchtbare
Mädchen, um ihretwillen verlassen und der für
Affekte und raffiniert gesteigerte Schauder hin¬
ihren Bräutigam gilt, konnte sie nicht bestimmen,
durch. Schnitzler komponiert in diesen Akten nicht
sich auch nur zeitweilig von dem furchtbaren
„wie ein Franzos“, sondern trotz einem Fran¬
Kranken zu trennen. Jetzt aber ist etwas Neues
zosen, er übertrifft namentlich in der Exposition
in ihr Leben eingetreten. Sie hat vor Monaten
die Kleinmeister der Technik jenseits des Rheins,
eine wilde Ballnacht mitgemacht und einen
weil er die kunstvoll verwickelten Motive indi¬
Offizier kennen gelernt, der ihre ganze zurück¬
viduell zu beseelen weiß. Auch in dem zweiten,
gedrängte Sinnlichkeit erweckt hat. Das war der
„Ruf des Lebens“ der an sie herandrang. Bisher
sehr grellen Akte, in dem die Maschine schon
viel stärker rasselt, blitzt die Durchgeistigung noch
hat sie auch diesem Rufe widerstanden; aber
stark hervor. Das Unwahrscheinliche tritt zum
die Sehnsucht in ihr ist zum Fieber geworden.
mindesten mit einer in ihrer Knappheit starken
Da jene schwindsüchtige Base, die Verlassene,
Überredungskunst auf, der man nicht leicht ent¬
die ihr kurzes Leben in Liebschaften vertollt,
kommt. Dann ber inmitten der katastrophalen
an sie herantritt und ihr erzählt, daß der Offizier
Ereignisse wird uns eine merkwürdige Umstim¬
ihrer Sehnsucht nach ihr gefragt hat, wird das
mung durch eine auflösende Rückschau zuge¬
Verlangen nach diesem Manne übermächtig in
mutet. Zwei Akte lang waten wir durch Blut,
ihr. Der Offizier gehört zu den blauen Kürassieren,
um zuletzt an das leider etwas seichte Wässer¬
die morgen in den Tod reiten, und wenn sie
chen einer nihilistischen Reflexion zu gelangen, in
nicht sofort zu ihm eilt, ist er ihr für immer
dem wir uns gesund baden sollen. Die Schauder
verloren. Und gerade jetzt kettet der alte Quäler
waren nur da, um uns zu beweisen, daß es keine
sie stärker als je an sich; er verschließt die
Schauder gibt und geben kann. Der Schluß ist
Wohnungstür und steckt den Schlüssel ein. Diese
gleichsam die Negation des ganzen Schauspiels.
Bedrängnis weckt den Dämon der Gewalttat.
Und dem Erfolg ging es genauso wie dem Drama;
Marie bereitet aus einem gefährlichen Be¬
er strafte sich selbst Lügen und hob sich auf.
ruhigungsmittel dem Dater einen Trank, der
Man versteht das, wenn man den Grund¬
„den Schlaf von hundert Nächten“ in sich birgt,
zügen der handlung folgt. Im Vordergrunde
und stürmt von einer Leiche weg in das tolle
des ersten Aktes steht ein abscheulicher neun¬
Abenteuer hinein. Und der Weg führt von Blut
zu Blut. In dem Kasernenheim des Offiziers,
seiner Todesfurcht zum Quälgeist seiner Tochter
zu dem Marie hastet — Max ist sein Name —
Marie wird, die er mit dem letzten Aufgebot
wirft nicht nur der Todesritt seine Schatten
brutaler Energie an sein Siechtum fesselt und
voraus: auch eine individuelle Schuld lastet auf
dabei noch mit häßlichem Reide auf ihre Jugend
dem Leben des jungen Mannes, der den Obersten
mißhandelt und beschimpft. Die Feigheit ist die
mit dessen leichtfertigen Gattin hintergangen hat.
Seele dieses gräßlichen Menschen; er hat als
Der Oberst, ein sehr originell gezeichneter
Rittmeister der blauen Kürassiere vor dreißig
Ironiker von finsterer Entschlossenheit, hat den
Jahren (das Stück spielt in österreich um die
Todesritt vermutlich nur vorgeschlagen, um das
Mitte des vorigen Jahrhunderts) sich aus Todes¬
Leben an der Seite einer Buhlerin, an die er
furcht tief erniedrigt; er verließ damals in der
gekettet ist, loszuwerden. Er spielt mit dem
Schlacht mit der Eskaoron seinen Posten, den
ihn der Befehl zu halten geboten hatte. In
zu begnadigen, er möchte ihm das Leben um
einem neuen Kriege wollen die blauen Kürassiere
den Preis eines Geständnisses schenken. Aber
jetzt den alten Flecken ihrer Fahne mit Blut
Max verschmäht das Geschenk und verweigert
abwaschen, das Regiment hat vom Kaiser die
das Geständnis; daraufhin wählt der Oberst
Erlaubnis erbeten und erhalten, sich in einem
einen andern Weg, vor dem letzten Gange
Todesritte zu opfern. Da der sieche Alte davon
abzurechnen. Er überrascht seine Frau bei dem
hört, trägt wiederum seine feige Lebenslust über
Offizier, den sie zu feiger Fahnenflucht über¬
die Scham den Sieg davon — er kann eine
reden will, schießt das Weib nieder und befiehlt
dämonische Freude darüber nicht unterdrücken,
dem Ehebrecher, die Tat auf sich zu nehmen.
daß so viel junge Menschen in den Tod reiten,
Max greift in dieser Lage zum Revolver — da
während sein gebrechliches Alter immer noch
aber stürzt Marie hervor, die hinter dem Vor¬
durch das Leben weiterschleicht. Seine Tochter
hange seines Schlafgemachs all die Vorgänge
Marie, ein leidenschaftliches Geschöpf, hat ent¬
belauscht hat und bestimmt ihn durch ihre Liebes¬
setzliche Jahre an der Seite dieses Peinigers
entschlossenheit ihr und sich selbst noch eine Nacht
verlebt. Aber sie hat bisher im Kerker ausge¬
zu schenken. Es ist eine Liebesnacht zwischen
halten; die stillen, resignierten huldigungen des
Leichen und Morden.
hausarztes haben sie nicht wankend gemacht;
Und dann rauscht der Dorhang empor und
auch ein mehr begünstigter Verehrer, der Forst= wir sind auf dem Lande inmitten einer Idylle,
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Zwei Akte lang führt uns dieses neue,
adjunkt, der ihre Base, ein schwindsüchtiges
innerlich gespaltene Schauspiel durch furchtbare
Mädchen, um ihretwillen verlassen und der für
Affekte und raffiniert gesteigerte Schauder hin¬
ihren Bräutigam gilt, konnte sie nicht bestimmen,
durch. Schnitzler komponiert in diesen Akten nicht
sich auch nur zeitweilig von dem furchtbaren
„wie ein Franzos“, sondern trotz einem Fran¬
Kranken zu trennen. Jetzt aber ist etwas Neues
zosen, er übertrifft namentlich in der Exposition
in ihr Leben eingetreten. Sie hat vor Monaten
die Kleinmeister der Technik jenseits des Rheins,
eine wilde Ballnacht mitgemacht und einen
weil er die kunstvoll verwickelten Motive indi¬
Offizier kennen gelernt, der ihre ganze zurück¬
viduell zu beseelen weiß. Auch in dem zweiten,
gedrängte Sinnlichkeit erweckt hat. Das war der
„Ruf des Lebens“ der an sie herandrang. Bisher
sehr grellen Akte, in dem die Maschine schon
viel stärker rasselt, blitzt die Durchgeistigung noch
hat sie auch diesem Rufe widerstanden; aber
stark hervor. Das Unwahrscheinliche tritt zum
die Sehnsucht in ihr ist zum Fieber geworden.
mindesten mit einer in ihrer Knappheit starken
Da jene schwindsüchtige Base, die Verlassene,
Überredungskunst auf, der man nicht leicht ent¬
die ihr kurzes Leben in Liebschaften vertollt,
kommt. Dann ber inmitten der katastrophalen
an sie herantritt und ihr erzählt, daß der Offizier
Ereignisse wird uns eine merkwürdige Umstim¬
ihrer Sehnsucht nach ihr gefragt hat, wird das
mung durch eine auflösende Rückschau zuge¬
Verlangen nach diesem Manne übermächtig in
mutet. Zwei Akte lang waten wir durch Blut,
ihr. Der Offizier gehört zu den blauen Kürassieren,
um zuletzt an das leider etwas seichte Wässer¬
die morgen in den Tod reiten, und wenn sie
chen einer nihilistischen Reflexion zu gelangen, in
nicht sofort zu ihm eilt, ist er ihr für immer
dem wir uns gesund baden sollen. Die Schauder
verloren. Und gerade jetzt kettet der alte Quäler
waren nur da, um uns zu beweisen, daß es keine
sie stärker als je an sich; er verschließt die
Schauder gibt und geben kann. Der Schluß ist
Wohnungstür und steckt den Schlüssel ein. Diese
gleichsam die Negation des ganzen Schauspiels.
Bedrängnis weckt den Dämon der Gewalttat.
Und dem Erfolg ging es genauso wie dem Drama;
Marie bereitet aus einem gefährlichen Be¬
er strafte sich selbst Lügen und hob sich auf.
ruhigungsmittel dem Dater einen Trank, der
Man versteht das, wenn man den Grund¬
„den Schlaf von hundert Nächten“ in sich birgt,
zügen der handlung folgt. Im Vordergrunde
und stürmt von einer Leiche weg in das tolle
des ersten Aktes steht ein abscheulicher neun¬
Abenteuer hinein. Und der Weg führt von Blut
zu Blut. In dem Kasernenheim des Offiziers,
seiner Todesfurcht zum Quälgeist seiner Tochter
zu dem Marie hastet — Max ist sein Name —
Marie wird, die er mit dem letzten Aufgebot
wirft nicht nur der Todesritt seine Schatten
brutaler Energie an sein Siechtum fesselt und
voraus: auch eine individuelle Schuld lastet auf
dabei noch mit häßlichem Reide auf ihre Jugend
dem Leben des jungen Mannes, der den Obersten
mißhandelt und beschimpft. Die Feigheit ist die
mit dessen leichtfertigen Gattin hintergangen hat.
Seele dieses gräßlichen Menschen; er hat als
Der Oberst, ein sehr originell gezeichneter
Rittmeister der blauen Kürassiere vor dreißig
Ironiker von finsterer Entschlossenheit, hat den
Jahren (das Stück spielt in österreich um die
Todesritt vermutlich nur vorgeschlagen, um das
Mitte des vorigen Jahrhunderts) sich aus Todes¬
Leben an der Seite einer Buhlerin, an die er
furcht tief erniedrigt; er verließ damals in der
gekettet ist, loszuwerden. Er spielt mit dem
Schlacht mit der Eskaoron seinen Posten, den
ihn der Befehl zu halten geboten hatte. In
zu begnadigen, er möchte ihm das Leben um
einem neuen Kriege wollen die blauen Kürassiere
den Preis eines Geständnisses schenken. Aber
jetzt den alten Flecken ihrer Fahne mit Blut
Max verschmäht das Geschenk und verweigert
abwaschen, das Regiment hat vom Kaiser die
das Geständnis; daraufhin wählt der Oberst
Erlaubnis erbeten und erhalten, sich in einem
einen andern Weg, vor dem letzten Gange
Todesritte zu opfern. Da der sieche Alte davon
abzurechnen. Er überrascht seine Frau bei dem
hört, trägt wiederum seine feige Lebenslust über
Offizier, den sie zu feiger Fahnenflucht über¬
die Scham den Sieg davon — er kann eine
reden will, schießt das Weib nieder und befiehlt
dämonische Freude darüber nicht unterdrücken,
dem Ehebrecher, die Tat auf sich zu nehmen.
daß so viel junge Menschen in den Tod reiten,
Max greift in dieser Lage zum Revolver — da
während sein gebrechliches Alter immer noch
aber stürzt Marie hervor, die hinter dem Vor¬
durch das Leben weiterschleicht. Seine Tochter
hange seines Schlafgemachs all die Vorgänge
Marie, ein leidenschaftliches Geschöpf, hat ent¬
belauscht hat und bestimmt ihn durch ihre Liebes¬
setzliche Jahre an der Seite dieses Peinigers
entschlossenheit ihr und sich selbst noch eine Nacht
verlebt. Aber sie hat bisher im Kerker ausge¬
zu schenken. Es ist eine Liebesnacht zwischen
halten; die stillen, resignierten huldigungen des
Leichen und Morden.
hausarztes haben sie nicht wankend gemacht;
Und dann rauscht der Dorhang empor und
auch ein mehr begünstigter Verehrer, der Forst= wir sind auf dem Lande inmitten einer Idylle,
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