II, Theaterstücke 19, Der Ruf des Lebens. Schauspiel in drei Akten (Vatermörderin), Seite 179

19. Der Ruf des Lebens
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in der alle Überlebenden dieser Schauer zu¬
von heute hindurchleuchtet. Beer=Hofmann sagt
sammenkommen. Da lebt Marie unbelästigt bei
in seinem „Grafen von Charolais“: „Nichts ist
ihrer Tante — der allzeit galante hausarzt
getan, es ist nur etwas geschehen,“ und eine
hat den Tod des Daters für einen natürlichen
ganz ähnliche Wendung findet sich im Odipus
ausgegeben. Da stirbt die Schwindsüchtige und
Hofmannsthals. Und dazu stimmt die Schlu߬
Liebestolle einen poetischen Ophelia=Tod, da
weisheit des neuen Schnitzlerschen Dramas, daß
löst sich alles in elegische Wehmut auf. Mariens
uns das Gestern nichts bedeutet und daß wir
Rubeter bleiben die alten. Zieht auch der Forst¬
nur im heute leben. Aber ist das alles nicht
adjunkt, der alles erfahren hat, schwer bedrückt
am Ende nur die Sophistik der Müdigkeit und
in die Ferne, so geht er doch mit der Liebe
Blasiertheit? So viel oder so wenig freien
Willen wir haben mögen — so viel ist gewiß,
im herzen von dannen. Und der treue Haus¬
daß wir die unwiderstehliche Vorstellung der
arzt setzt der heldin der wüsten Mordnacht
mit philosophischem Troste zu: alles Vergangene
Willensfreiheit und mit ihr auch das erlösende
oder peinigende Bewußtsein unserer handlungen
ist nur Schattenspiel. Der ermordete Dater und
haben. Unsere Physiologen sagen, daß das Ge¬
all die Schauer, die die Sinnlichkeit einer
dächtnis in aller lebendigen Materie steckt, und
blutigen Nacht umlagerten. Nur die Sonne,
ein genialer Philosoph und Physiker, einer der
die uns scheint, die Luft, die wir atmen, ist
bedeutendsten Männer Wiens, der vor keiner
Leben, ist Wirklichkeit. Und Marie gesteht
Wahrheit zurückschrickt, erklärt unser Ich, das
staunend zu, daß dieses Leben, diese Wirklichkeit
er nüchtern betrachtet, doch für ein Bündel von
sie wieder in ihre Kreise ziehen ....
Dorstellungen. Liegt es in unserer Macht, dieses
„Ist das nun etwas?“ möchte man mit
einem klassischen Worte Shakespeares fragen.
Bündel aufzulösen, die Vorstellungen des Ver¬
Über solch einen nihilistischen Schluß kommt
gangenen in Nichts zerflattern zu lassen, uns
in einseitigem Degetieren dem Moment hin¬
kein Publikum hinaus, ohne sich laut oder leise
dagegen zu wehren. Gerade das Scheinende
zugeben? Ich glaube nicht, daß in dieser
dieser mit milder Überlegenheit vorgetragenen
Lebensauffassung der keim zu einem neuen
Schlußmahnung hat etwas Aufreizendes. Wer
Drama liegt, weit mehr, daß wir da mit einer
vorübergehenden Zersetzung des Kerns aller
kennt nicht die Allerweltserfahrung, daß in den
dramatischen Dichtung zu rechnen haben. Auch
Zuständen der tiefsten Trauer, der schwersten
das Publikum war nicht gläubig. Es wollte
Tragik unsere Sinne auf die gewohnte Art
mit der elegisch=idyllischen Überwindung der
reagieren, wer weiß nicht von der Bitterkeit
schaudervollen Katastrophen nichts zu schaffen
der Wahrnehmung, daß selbst mitten in Kata¬
strophen das Süße und Lockende eine gewisse
haben und ließ den Schluß des Schnitzlerschen
Wirkung auf uns ausüht? Aber seit jeher war
Dramas fallen, obgleich es der geistvollen
Kombination und den starken, charakteristischen
es der Beruf der Dichtung, die Macht der
Zügen des Stückes zwei Akte lang gespannte Auf¬
tieferen Empfindung über solche äußerliche
merksamkeit und laute Anerkennung gewährt hatte.
sensuelle Wirkungen darzutun — sei es, daß sie
Die Aufführung des Schauspiels im Lessing¬
das Sensuelle selbst (wie es Grillparzer so
Theater war aller Ehren wert. Irene Triesch
herrlich in seiner „Hero“ getan) mit Seelischem
hatte vollauf dämonische Leidenschaft, um an
sättigt, sei es, daß sie uns die Übermacht des
die heldin glauben zu machen, Bassermann
seelischen Selbstbewußtseins über die materiellen
war von genialer Entschiedenheit in der Zeich¬
Sinneseindrücke vor Augen führt. Und nun
nung des Obersten, von dessen grausamem Witz
sollen wir an das Gegenteil glauben: die Über¬
eine eigenartig starke Wirkung ausgeht und
macht des momentanen Lebensgenusses soll
Else Lehmann entzückte durch den gemütlichen
über alles triumphieren. Seltsam schließt sich
Zug, den sie als leidende Mutter der Schwind¬
der Kreis; die Hyperkultur stößt auf die Un¬
süchtigen in der Darstellung festhielt. Auch sonst war
kultur, das Raffinement auf die Brutalität. In
dieser heilslehre vom Leben im Moment liegt
das Ensemble schlagfertig und von einheitlicher
Stimmung. Aber dem Stück selbst fehlt die Einheit,
eine Ergänzung zu der Negation der Willens¬
freiheit, die durch die Werke anderer Dramatiker die zu vollem Siege führt. Alfyed Klaar. —
Von der Woche.
provisorisch zu regeln (2540.), wird angenommen. — Im Mini¬
22. Februar. Johann Uepomuk Graf Gleispach
sterium des Kußern werden die mündlichen Verhandlungen
(geb. 1840) Justizminister a. D., Präsident des Oberlandes¬
mit den Schweizer Delegierten wegen Abschluß des Handels¬
gerichtes, in Graz †. — 385. Sitzung des Abgeordnetenhauses.
vertrages wieder aufgenommen. — handwerkertag in Wien.
Die Handelsverträge mit Italien (2541. Beil. d. St. Pr.), Bel¬
23. 386. Sitzung des Abgeordnetenhauses: Der Minister¬
gien (2542.), Rußland (2549.) und der Entwurf eines Gesetzes,
präsident bringt die Regierungsvorlagen über die
womit die Regierung ermächtigt wird, die handelsbeziehungen
mit dem Auslande für die Zeit vom 1. März bis 30. Juni 1906 ! Wahlreform, den Schutz der Wahlfreiheit, die Abänderung