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19. Der Ruf des Lebens
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Bühne und Welt.
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das war eine Kunst, die man immer von neuem bewundern mußte, und in der ihn keiner je
erreicht hat und je erreichen wird. Speidel dichtete in der Erzählung das Kunstwerk nach. Alles
wurde plastisch, man erlebte das Stück noch einmal, und in diesem zweiten Erleben an der festen
Hand des Führers wurden einem alle Vorzüge, alle Fehler so selbstverständlich klar, als sähe
man mit den Angen dieses Führers, als fühle man mit seinem Herzen. Ich bin überzeugt, daß
viele Stücke im Gedächtnis der Hörer stärker Wurzel gefaßt haben durch Speidels Nacherzählung,
als durch das Bild auf der Bühne. Und so wird seine Macht über das geistige Wien erklärlich,
eine Macht, die, so lange er an der „Neuen Freien Dresse“ schrieb, nie einen Augenblick geschwankt
hat. Noch heute wirkt sie nach. Und die Schauspieler des Burgtheaters werden zum großen
Teile vom Dublikum noch heute so gewertet, wie Speidel sie gewertet hat. Denn auch einen
Schauspieler und seine Kunst wußte er zu schildern und in der Schilderung verständlich zu
machen. Oft nur mit einem Wort, mit dem Ton in einem Satz. Der Farbenreichtum seiner
Sprache war unerschöpflich. In diesem Farbenreichtum lebte die ganze Lichtfreude auf, die ihm
l das Leben verschönt hat. Denn dieser Deutsche war im Grunde genommen ein Heide, ein
Hellene. Ein Heide aus Schwabenland, ein die olpmpischen Götter anbetender Hellene voll
deutschen Hu#nors. Sein Optimismus führte ihn zur Liebe, mit der er alles anfaßte, was ihm
Lwahre Kunst bedeutete. Wie hat er mit dem Burgtheater gerungen, wie hat er ihm die bittersten
und härtesten Dinge gesagt, dem Hause, das er so innig liebte! Und von seinem Schreibtische,
von seiner stillen Stube aus griff er mächtig ein in die Geschicke des Theaters. Man hat ihm
wiederholt die Direktion des Burgtheaters angetragen. Er lehnte immer ab. Er wollte frei
sein, frei bleiben. Etwas Ungebundenes, Unfesselbares blieb immer in ihm.
In der Art, wie Speidel ein Stück in einer Drosaerzählung nachdichtete, war er Epiker.
Die Weise seines Dortrages war lprisch. Es gibt wenig moderne Lpriker in Oesterreich, deren
Sprache so reich ist an Klang und Farbe, wie die Sprache Speidels. Er hat seine Kritiken
gedichtet, und oft könnte man sagen, er hat sie gesungen. Ein Urteil über einen Schauspieler
mag im Winde verwehen, die Kritik eines Stückes mag mit dem Stücke untergehen. Auch die
Stücke, die Lessing besprach, sind vergessen und verschollen, und ihre Wertung kümmert uns nichts
mehr. Was von Speidel übrig bleibt, ist das machtvolle Bild seiner Persönlichkeit, ist der Gold¬
schmied und Schwertfeger der Sprache, ist der Dichter des Temperaments. Und als solcher steht
Meister Speidel in unserer Erinnerung. Man wird seine Schriften sammeln, und dann erst wird
ihre Bedeutung klar werden: ihre Bedeutung als unvergängliche Denkmäler der Sprachkunst und
des künstlerischen Empfindens.
Rudolph Lothar.
Von den Berliner Theatern 190506.
XI.
#ie Hoffnung, daß wir in dieser Spielzeit noch einen unserer deutschen Dramatiker einen
einwandsfreien künstlerischen Erfolg erringen sehen, schwindet mehr und mehr. Nun
hat uns auch Arthur Schnitzler mit seinem dreiaktigen Schauspiel: „Der Ruf des
Lebens“,*) das am 2#.###
##ing=Theater seine Uraufführung erlebte, eine starke
Enttäuschung bereitet. Das ziemlich belanglose „Zwischenspiel“ glaubten wir als ein Intermezzo,
auch im Schaffen des Dichters werten zu dürfen und hofften, den Auf des Lebens aus einer
Orchesterdichtung großen Stils tönen zu hören. Aber, siehe da, man spielte uns Operneffekte
ältesten Kalibers, Musik vom Vorstadttheater für Kleinbürger, die das Gruseln lernen wollen,
vor, und was der Komponist von seinem Eigenen und Besten zu geben wußte, erstickte und verflog,
noch ehe es recht das Ohr des Hörers erreichte. Die Hauptschwäche der jüngsten Dichtung
Schnitzlers liegt schon in der Fabel. Schnitzler hat anscheinend den ihm von manchen Rezensenten
gemachten Dorwurf, seine beiden letzten Dramen seien zu arm an Handlung, vermeiden wollen
und eine Reihe ungewöhnlicher Geschehnisse zusammengedrängt. Aber die Methode der Ohilippi
und Sardon ist nicht die seine. Er erscheint ungeschickt, wenn er mit ihnen in Wettbewerb tritt,
nimmt zu den ältesten Hilfsmittelchen, Lauscher, die sich hinter Gardinen verbergen, Räsonneure,
die nach alter Sitte immer dann eintreten, wenn die Handlung einen Kommentar erheischt,
Stimmungsmache durch vorüberziehendes Militär und spielende Kinder, seine Zuflucht. Er knüpft
*) Buchausgabe Verlag S. Fischer, Berlin, 1906. 2 Mk.
19. Der Ruf des Lebens
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Bühne und Welt.
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das war eine Kunst, die man immer von neuem bewundern mußte, und in der ihn keiner je
erreicht hat und je erreichen wird. Speidel dichtete in der Erzählung das Kunstwerk nach. Alles
wurde plastisch, man erlebte das Stück noch einmal, und in diesem zweiten Erleben an der festen
Hand des Führers wurden einem alle Vorzüge, alle Fehler so selbstverständlich klar, als sähe
man mit den Angen dieses Führers, als fühle man mit seinem Herzen. Ich bin überzeugt, daß
viele Stücke im Gedächtnis der Hörer stärker Wurzel gefaßt haben durch Speidels Nacherzählung,
als durch das Bild auf der Bühne. Und so wird seine Macht über das geistige Wien erklärlich,
eine Macht, die, so lange er an der „Neuen Freien Dresse“ schrieb, nie einen Augenblick geschwankt
hat. Noch heute wirkt sie nach. Und die Schauspieler des Burgtheaters werden zum großen
Teile vom Dublikum noch heute so gewertet, wie Speidel sie gewertet hat. Denn auch einen
Schauspieler und seine Kunst wußte er zu schildern und in der Schilderung verständlich zu
machen. Oft nur mit einem Wort, mit dem Ton in einem Satz. Der Farbenreichtum seiner
Sprache war unerschöpflich. In diesem Farbenreichtum lebte die ganze Lichtfreude auf, die ihm
l das Leben verschönt hat. Denn dieser Deutsche war im Grunde genommen ein Heide, ein
Hellene. Ein Heide aus Schwabenland, ein die olpmpischen Götter anbetender Hellene voll
deutschen Hu#nors. Sein Optimismus führte ihn zur Liebe, mit der er alles anfaßte, was ihm
Lwahre Kunst bedeutete. Wie hat er mit dem Burgtheater gerungen, wie hat er ihm die bittersten
und härtesten Dinge gesagt, dem Hause, das er so innig liebte! Und von seinem Schreibtische,
von seiner stillen Stube aus griff er mächtig ein in die Geschicke des Theaters. Man hat ihm
wiederholt die Direktion des Burgtheaters angetragen. Er lehnte immer ab. Er wollte frei
sein, frei bleiben. Etwas Ungebundenes, Unfesselbares blieb immer in ihm.
In der Art, wie Speidel ein Stück in einer Drosaerzählung nachdichtete, war er Epiker.
Die Weise seines Dortrages war lprisch. Es gibt wenig moderne Lpriker in Oesterreich, deren
Sprache so reich ist an Klang und Farbe, wie die Sprache Speidels. Er hat seine Kritiken
gedichtet, und oft könnte man sagen, er hat sie gesungen. Ein Urteil über einen Schauspieler
mag im Winde verwehen, die Kritik eines Stückes mag mit dem Stücke untergehen. Auch die
Stücke, die Lessing besprach, sind vergessen und verschollen, und ihre Wertung kümmert uns nichts
mehr. Was von Speidel übrig bleibt, ist das machtvolle Bild seiner Persönlichkeit, ist der Gold¬
schmied und Schwertfeger der Sprache, ist der Dichter des Temperaments. Und als solcher steht
Meister Speidel in unserer Erinnerung. Man wird seine Schriften sammeln, und dann erst wird
ihre Bedeutung klar werden: ihre Bedeutung als unvergängliche Denkmäler der Sprachkunst und
des künstlerischen Empfindens.
Rudolph Lothar.
Von den Berliner Theatern 190506.
XI.
#ie Hoffnung, daß wir in dieser Spielzeit noch einen unserer deutschen Dramatiker einen
einwandsfreien künstlerischen Erfolg erringen sehen, schwindet mehr und mehr. Nun
hat uns auch Arthur Schnitzler mit seinem dreiaktigen Schauspiel: „Der Ruf des
Lebens“,*) das am 2#.###
##ing=Theater seine Uraufführung erlebte, eine starke
Enttäuschung bereitet. Das ziemlich belanglose „Zwischenspiel“ glaubten wir als ein Intermezzo,
auch im Schaffen des Dichters werten zu dürfen und hofften, den Auf des Lebens aus einer
Orchesterdichtung großen Stils tönen zu hören. Aber, siehe da, man spielte uns Operneffekte
ältesten Kalibers, Musik vom Vorstadttheater für Kleinbürger, die das Gruseln lernen wollen,
vor, und was der Komponist von seinem Eigenen und Besten zu geben wußte, erstickte und verflog,
noch ehe es recht das Ohr des Hörers erreichte. Die Hauptschwäche der jüngsten Dichtung
Schnitzlers liegt schon in der Fabel. Schnitzler hat anscheinend den ihm von manchen Rezensenten
gemachten Dorwurf, seine beiden letzten Dramen seien zu arm an Handlung, vermeiden wollen
und eine Reihe ungewöhnlicher Geschehnisse zusammengedrängt. Aber die Methode der Ohilippi
und Sardon ist nicht die seine. Er erscheint ungeschickt, wenn er mit ihnen in Wettbewerb tritt,
nimmt zu den ältesten Hilfsmittelchen, Lauscher, die sich hinter Gardinen verbergen, Räsonneure,
die nach alter Sitte immer dann eintreten, wenn die Handlung einen Kommentar erheischt,
Stimmungsmache durch vorüberziehendes Militär und spielende Kinder, seine Zuflucht. Er knüpft
*) Buchausgabe Verlag S. Fischer, Berlin, 1906. 2 Mk.