II, Theaterstücke 19, Der Ruf des Lebens. Schauspiel in drei Akten (Vatermörderin), Seite 181

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19. Der Ruf es Lebens
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Bühne und Welt.
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an reale Vorgänge der Zeitgeschichte an und bedenkt nicht, daß seine Handlung im Grunde zeitlos
und phantastisch ist. daß man ihr auf Schritt und Tritt Verstöße gegen die geschichtliche Wahrheit
und die Lebenswahrheit nachweisen kann. Schnitzler wollte zeigen, wie der Ruf des Lebens an
eine Reihe von Individuen ergeht, die ihm, jeder nach seiner Weise, folgen, und wie die meisten
ihn mißverstehen. Der Dichter lebt auch diesmal seiner aus der Mehrzahl seiner früheren
Schöpfungen uns bekannten Reigung, Stimmungen und Handlungen seiner Personen auf der
Grenzscheide des Lebens und des Todes zu schildern, auf die stärkste Bejahung des Lebenstriebes,
wie er sich im Liebesakt offenbart, den Tod durch eigene oder fremde Hand oder ein langsames
Degetieren und ein allmähliches Dahinsterben folgen zu lassen. In der Einleitung und Auflösung
solcher Stimmungen, in der scharfen Kontrastierung pfpchologischer Momente, in der nachdenklichen
Betrachtung der Dorgänge des Lebens und des Todes von einer höheren Warte aus, liegt
Schnitzlers Meisterschaft, die den letzten Dingen, den feinsten Beziehungen zwischen Mensch und
Mensch auf den Grund zu kommen sucht, über Töne leiser, nachzitternder Wehmut ebensogut wie
über ironische Skepsis und eleganten Zpnismus im Stile der Lebenskünstler des 18. Jahrhunderts
verfügt. — Der österreichische Rittmeister Moser von den blauen Kürassieren hat vor 30 Jahren
in einer Schlacht, von plötzlicher Furcht und rasendem Lebenshunger erfaßt, seiner Eskadron das
Zeichen zur Flucht gegeben, das ganze Regiment mitgerissen und dadurch das Schicksal des Tages
zugunsten des Feindes entschieden. Man hat den Schuldigen oder die Natur des Vorganges
seinerzeit nicht ermitteln können, nur die Tradition lebt in der Armee fort, daß die blauen
Kürassiere damals eine Schuld auf sich geladen haben. Jetzt ist wieder Krieg in Sicht, und das
Offizierskorps jenes Regiments hält die Gelegenheit für gekommen, die alte Schmach zu fühnen
und erbittet sich vom Kaiser die Gnade aus, daß die Cruppe en die gefährlichste Stelle gesandt
werde, wo voraussichtlich kein Mann mit dem Leben davon kommt. Die Mannschaften werden
vom gleichen Todesmut angesteckt, und obgleich der Oberst, wie der alte Fritz bei Leuthen, es
jedem freistellt, dem Codesritt fern zu bleiben, schließt sich keiner aus, selbst Deserteure kehren
zurück. Rittmeister Moser, der als 79=jähriger, schwerkranker, gebrochener Mann im Lehnstuhl
liegt, hört das Getrappel der von der lautlosen Teilnahme der Bevölkerung begleiteten Schwadron,
die an seinem Fenster vorbei in den Tod zieht. Eine diabolische Freude ergreift den trotz seinem
Zustande von unersättlichem Lebenshunger beherrschten, tprannischen, hartherzigen alten Mann,
der seiner einzigen Tochter und Pflegerin Marie das Leben zur Hölle macht. All dies junge Blut
muß in den Tod, um zu sühnen, daß er einst Leben, Weib und Kind gewinnen wollte, und niemand
weiß es, daß er der Schuldige war, aber seiner Tochter, die mit brennenden Blicken den blauen
Linien folgt und vergebens nach wohlbekannten, geliebten Zügen ausschaut, offenbart er sich in
dieser Stunde. Marie, die ein Leben voll Hein und Entsagung führt, zehrt an einer einzigen
Erinnerung, an der Erinnerung an den stattlichen, jungen Offizier, in dessen Armen sie in einer
Ballnacht durch den lichterfüllten Saal geschwebt ist. Sie war zu feige und zu sehr dem Willen
des tprannischen Daters untertan, der ihre Dienste keine Minute missen will, um ein Wiedersehen
mit dem Manne, der einen so unauslöschlichen Eindruck auf ihr junges Herz gemacht hat, zu
ermöglichen. Jetzt weiß sie, daß er unter den Todgeweihten dort unten auf der Straße reitet,
und das Leben dünkt ihr fortan schal und reizlos. Durch Zufall erfährt sie jedoch, daß die
Schwadron, in der ihr Leutnant steht, erst am nächsten Morgen Wien verläßt, und sofort steht ihr
Entschluß fest, diese letzte Nacht zu genießen, ihrem Lebenshunger und Lebenstrieb zu folgen.
Da der alte Dater instinktiv ihre Gedanken errät und durch Verschließen der Tür sie festhalten
will, so gießt sie mit wilder Entschlossenheit die Morphiumtropfen, die den Schlaf von hundert
Nächten enthalten, mit einem Male in des Daters Glas. Der Alte trinkt und fällt leblos zu
Boden. Marie würdigt ihn keines Blickes mehr, ergreift den Schlüssel und ihr Halstuch und stürzt
in die Kaserne, in das Zimmer des Geliebten und birgt sich hinter dem Dorhang. Hier wird
sie Zeuge einer unerwarteten furchtbaren Szene. Der junge Offizier hat mit der schönen Frau
seines Obersten ein Verhältnis gehabt, und obgleich er schon den letzten Abschied von ihr ge¬
nommen hat, kommt die Frau abends in seine Stube und sucht ihn mit werbender beredsamer
Zärtlichkeit für ihre Pläne zu gewinnen; nicht in den Tod zu reiten, sondern mit ihr ins Ausland
zu fliehen. Der Offizier weist die Verführerin ab, plötzlich klirrt eine Scheibe: Der Oberst, der
das ehebrecherische Haar schon längst beargwöhnte, springt durchs Fenster, erschießt nach kurzem
Wortwechsel sein schuldiges Weib und gibt dem Leutnant zu verstehen, daß er mit eigener Hand
sich zu richten habe. Der junge Offizier, greift denn auch nach dem Fortgang des Obersten zur
Dittole. In diesem Augenblick stürzt Marie aus ihrem Versteck hervor und fällt dem Leutnant