II, Theaterstücke 19, Der Ruf des Lebens. Schauspiel in drei Akten (Vatermörderin), Seite 182

19. Der Ruf des Lebens
box 24/2
Bühne und Welt.
519
in den Arm. Sie bekennt in fliegenden Worten ihre Liebe, und der Jüngling, den an der
Schwelle des Todes noch einmal so ganz unerwartet Frauengunst und Lebenslust begrüßen, stürzt
mit ihr zur letzten wilden Liebesnacht. Am Morgen aber entleibt er sich durch eine wohlgezielte
Augel. Das Regiment, mit dem Obersten an der Spitze, zieht in die mörderische Schlacht, in der
nur ein einziger, ein junger Offizier, unversehrt bleibt, und dieser tötet sich, um nicht allein dem
Schwur untreu zu werden, mit eigener Hand. Marie, die in diese eine Nacht die Seligkeit eines
ganzen Lebens zusammengedrängt hat, um dann am Morgen wie eine Dirne von ihrem Liebsten
verlassen zu werden, lebt auf einem einsamen Dorfe bei einer Verwandten. Der menschenkundige
humane Hausarzt, der einst vergeblich um das schöne Mädchen geworben hat, weiß von ihrer
Schuld, der Mordtat und der Liebesnacht, aber er sieht in ihr keine Sünderin, sondern nur eine
Irregegangene, und bestärkt sie in ihrer erwachenden Reigung zum Leben. Nur soll sie einsehen,
daß aus dem ruhigen freundlichen Sommertag, den sie jetzt an seiner Seite verlebt, viel reiner
und tiefer der Ruf des Lebens klingt, als aus jenem andern, an dem sie so furchtbare Dinge
und dunkle Abenteuer erlebte. Irregegangen ist auch die Base der Rittmeisterstochter, die infolge
schleichender Krankheit als Todgeweihte sich fühlend, den Rest ihres jungen Lebens im Taumel
genießen will, zur Dirne herabsinkt und als geistig Gestörte und unheilbar Zerrüttete in einer
Shakespeares „Ophelia“ stark nachempfundenen Szene im weißen Kleide und blumenbekränzten
Haar ihre Seele aushaucht. — Schlaftrunk, Datermord, Gattenmord, Tod im Wahnsinn auf der
Bühne, zwei Selbstmorde hinter den Kulissen und eine Hekatombe junger Krieger, die auf dem
Felde der Ehre hingeschlachtet wird, das ist etwas viel für ein Stück, das nicht in grauer Vorzeit
oder im Lande Nirgendwo spielt. Zwischen diesen lauten und brutalen Geschehnissen verklingen
so feine Stimmungen wie in der Szene der beiden jungen Offiziere, die an eine ähnliche in
Kleists „Prinz von Homburg“ erinnert, und verwischt sich so originelle, fein pointierte Charak¬
#teristik, wie die des Obersten, der vor der Belauschungsszene erst auf Umwegen, dann direkt aus
seinem lieben Leutnant Max das Bekenntnis seiner Schuld herausholen möchte. Neben dem Arzt,
dem bedächtigen Räsonneur alten Schlages, schleicht ein moderner Brackenburg durchs Stück, in
der Gestalt eines in Marie verliebten Forstadjunkten. Am Ende wird er oder der kluge Arzt die
zum rechten Verständnis des Lebens Dus#h#rungene noch als Gattin heimführen. Diesen Ausblick
in die Gartenlaube hätten wir gern Schnitzler geschenkt. Gegen die Lebensechtheit seiner Haupt
personen läßt sich mancher Einwand erheben. Der nüchterne Beobachter kann sich des Eindrucks
nicht entschlagen, daß dieser Marie Kantharidin im Blute gärt oder ein plötzlicher Anfall von
Hpsterie den Blick trübt. Auch der nach solchen Erlebnissen noch vorhandene Liebeshunger des
Todeskandidaten entzieht sich der Kompetenz des normalen Empfindens. Aber über diese Dunkte
läßt sich streiten; dagegen ist die ganze Geschichte von den blauen Kürassieren, vom Gelöbnis
und Codesritt als im übeln Sinne romanhaft zu bezeichnen. Die ganze moderne Kriegsgeschichte,
Jalu und Mukden einbegriffen, weiß von solchem Schwur und von solcher radikalen Dernichtung
eines ganzen Regimentes nichts zu erzählen. Schade, daß Schnitzler einen Gedanken, der im
Gespräch der beiden jungen Offiziere anklingt, nicht weiter ausgeführt und gewissermaßen zum
Kristallisationspunkte der Handlung gemacht hat: Der Oberst, der sein häusliches Unglück nicht
überleben will, führt das ganze Regiment in den Tod, indem er den Gedanken von der zu
sühnenden Schmach seinen Leuten einimpft. Er, der Führer, wird durch seine Tat eine historische
Persönlichkeit, die andern alle sterben namenlos, für eine Idee, vielleicht für ein Phantom. Die
Situation würde noch dramatischer, wenn der Oberst nicht bestimmt wüßte, welcher von seinen
Offizieren der Ehebrecher ist, und für die Schuld des einen alle opferte. — Die Aufführung im
Lessing=Theater bot das nicht neue Bild, daß die intelligentesten Darsteller über die Schwächen
eines im Kern morschen Stückes nicht hinwegzutäuschen vermögen. Irene Triesch mühte sich
nach Kräften durch den ganzen Aufwand ihres Temperamentes und eindrucksvollen Mienenspiels,
der Gestalt der Marie Lebenswahrheit zu verschaffen. Bassermann sicherte der Episodenrolle des
Obersten bis auf den unglückseligen Schuß auf offener Bühne starkes Interesse. Kurt Stieler
gestaltete seinen Liebhaber und Moriturns recht lebenswahr und ansprechend. Dagegen ent¬
ledigten Emanuel Reicher und Rudolf Rittner sich ihrer beiden Rollen, die ihrem Charakteri¬
sierungstalent so gut wie nichts bieten, mit schlecht verhehlter Unlust und Gleichgültigkeit. Auch
Else Lehmann konnte in ihrer Tantenrolle von ihrer eigentlichen Begabung nichts zeigen. In
der heiklen Rolle der zur Dirne gewordenen Geisteskranken zeigte eine der Bühne lange fern
gebliebene junge Darstellerin, Grete Hoffmann, Feinfühligkeit und Geschmack. Hans Marrs alter
Rittmeister Moser verdiente als vermutlich erster Versuch im Däterfach Anerkennung. Ob¬