II, Theaterstücke 19, Der Ruf des Lebens. Schauspiel in drei Akten (Vatermörderin), Seite 203

19 Der Ruf des Lebens
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Deutsche Rundschau.
seine Diener und Pferde, seinen Wagen, trotz der flehenden Bitte des alten Phönix
den ihm der König zum Führer und Begleiter gegeben hat, nach Korinth zurück,
er werde nie wieder zu seinen Eltern heimkehren, um so das Drakel unmöglich zu:
machen, und namenlos, unbekannt und unbehaust in die Fremde wandern. Kaum
sind die Diener fortgeschickt und Odipus von den „Stimmen der Ahnen“ im
Sturm geheimnsvoll umrannt, in seiner Verzweiflung allein geblieben, als Laios
mit seinem Gefolge erscheint. Der König von Theben zieht gen Delphi, um den
Gott wegen der Sphiur zu befragen. Zwischen dem Herold und Odipus entspinnt
sich ein Streit. Jähzornig und hochmütig erschiägt Odipus erst den Herold und
dann den Laios; die Diener treibt er in die Flucht, und sie ertrinken im Fluß.
Odipus tritt an die Leiche des Laios: „Warum fällt dieser greuliche Wahnsinn mich
an, zu glauben, daß es mein Vater sei?" Bei den Strahlen des Mondes sieht er
in das bleiche, eiskalte und fremde Gesicht eines alten Mannes, den er vordem nie
gesehen, und ruft aufatmend aus: „Leicht ist mein Herz!“ Die Stimme des Blutes
schweigt völlig in ihm. Dieser erste Akt spielt, wie die „Elektra“, in der Dunkelheit
der Nacht, die nur spärlich vom Mondlicht erhellt wird. Um in seine Fabel,
die rein epische Vorgänge schildert, ürerhaupt einen dramatischen Zug hineinzu¬
bringen, macht Hofmannsthal im zweiten Akt aus dem Kreon, dem Bruder der
Jokaste, einen ehrgeizigen Streber, der sich zum König Thebens aufschwingen will.
Aber er ist ein feiger Ränkespinner kein Held. Statt die Stadt von der
Sphinx zu befreien, hat er seinen Begleiter, der ihm mit der Fackel den Weg durch
das Felsgeklüft zu der Höhle des Ungeheuers vorleuchten sollte, hinterrücks in den
Abgrund gestoßen, um so seine Rückkehr unverrichteter Sache entschuldigen zu können.
Dre, seine Diener hat er das Volk zu seinen Gunsten bearbeiten lassen; es rottet
sich zusammen und belagert die Königsburg. Die Königinnen Antiope, die Mutter,
und Jokaste, die Witwe des Laios, sollen Kreon das Diadem und das Reichsschwert
ausliefern. Im Palast selbst erschallen noch die Litaneien und das Gestöhn der Klage¬
frauen, die den Tod des Laios beweinen, und die beiden Königinnen hadern mit¬
einander. Antiope schmäht die Jokaste ihrer Unfruchtbarkeit wegen und reizt sie durch
ihren Hohn, bis diese ihr gesteht, daß Laios den Sohn, den sie ihm geboren, hat er¬
würgen lassen, da die Priester ihrem Gatten verkündigt haben, daß dieser Sohn ihn töten
und seine Mutter heiraten würde. Während das Volk vor dem Palaste tobt und
Kreon, versteckt, auf den Erfolg der Bewegung lauert, erscheint der blinde Seher
Teiresias. Der Geist hat ihn aus seiner Höhle in die Stadt getrieben. Die Königin
Antiope fordert ihn auf, den Mörder des Laios, das Volk, ihm den Retter vor der
Sphinx zu offenbaren und herbeizubeschwören. Teiresias verkündigt in seiner Ver¬
zückung Zukünftiges und Gegenwärtiges, Verständliches und Verworrenes; der Mörder
und der Retter verschmelzen sich ihm phantastisch zu einem Halbgott. In wilder
Erregung ruft das Volk Jokaste zu: „Und wär's ein Räuber, wär's ein verlaufener
Knecht, wär' es ein Mörder, schwör', daß du ihm gehörst, wenn er uns rettet.“
Kaum hat Jokaste den Eid geleistet, tritt Odipus auf, von dem Jubel der Massen
umtost. Er hat eine Feuersbrunst in der Vorstadt gelöscht und will die Sphinx be¬
kämpfen. Wieder, wie bei dem Anblick des Toten Laios, schweigt bei dem Anblick
der Jokaste die Stimme des Blutes in ihm. Nur seine Leidenschaft wird von ihrer
Schönheit und ihrem Königlum entflammt. Seine Reden und seine Haltung, als er
sich zu dem Gange zur Sphinx anschickt, sind die des wahnwitzigen Übermenschen: „In
meinen Adern halt' ich die Welt: es stürzt kein Stern, es taumelt kein Vogel von
der Nestbrut ohne mich; beflügelt ist mein Blut, und meine Seele steigt wie ein
Springquell.“ Der dritte Akt spielt wieder in der Finsternis der Nacht, in den
Felsen, wo die Sphinx haust. Eine sichtbare Gegenüberstellung der Sphinx und des
Odipus hat der Dichter nicht versucht; er begnügt sich mit der Erzählung des Helden:
Als es ihn gesehen, hat ihm das Ungeheuer zugerufen: „Heil dir Odipus, der die
tiefen Träume träumt, Heil dir, auf den ich gewartet habe!“ und sich rücklings, „den
Blick auf mir, den schon verendenden, mit einer grauenhaften Zärtlichkeit durch¬
Weg