II, Theaterstücke 19, Der Ruf des Lebens. Schauspiel in drei Akten (Vatermörderin), Seite 204

19. Der Ruf des Lebens
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Die Berliner Theater.
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tränkten“, in den Abgrund gestürzt. Kreon, der den Odipus auf den Weg geleitet
hat, in der Absicht, ihn zu ermorden, ist nun der erste, der dem Sieger huldigt, und
schon naht auch das Volk, allen voran die Königin, bräutlich geschmückt, die Krone
auf dem Haupt, liebestrunken. „Du bist ein Gott. Nur Götter schaffen um, was
sie berühren. Ich bin dein Geschöpf: in einen Schlaf hast du mich wie in Feuer
hinabgeworfen und mir drin erneut die Seele und die Glieder. Sprich: soll dein
Geschöpf hinknieen zwischen deine Hände,“ sagt sie zu ihm und „sinkt über seinen
Arm wie eine geknickte Blume".
Hofmannsthal hat in diesem romantisch=modernen Odipus den ganzen Schwulst
und die ganze Pracht seiner sinnlich=phantastischen Lyrik ausströmen lassen. Ein
berückendes Glitzern und Funkeln, ein beständiger Nervenkitzel, eine unendliche, bald
einschläfernde, bald unheimlich aufwühlende Melodie, alle Figuren in Brunst und
Fieber des Entsezens und des Mordes, des Ehrgeizes und der Lust. Der erste und
der dritte Akt bewegen sich durchaus in der Sphäre des Epos; eine Schilderung, eine
Erzählung folgt der andern; nur der zweite Akt hat dramatischen Charakter, Fort¬
gang und Steigerung und in der Volksszene einen wirkungsvollen Abschluß. Gewiß
besitzt der Dichter ein eigenartiges Talent, mehr lyrischer als dramatischer Art, stärker
in der Anatomie und in der Ausmalung der Leidenschaft als in der Erfindung einer
anziehenden Handlung und in der Zeichnung einfacher, großzügiger Gestalten; aber
es ist angekränkelt von der Überreizung der Nerven und der Bleichsucht der Hysterie.
Mich erinnert Hofmannsthal im Wesen und Ausdruck an Daniel Kaspar von Lohen¬
stein: dasselbe Wühlen im Gräßlichen, dieselben Peitschenhiebe, um das Blut in höhere
Wallung zu bringen, und derselbe Wortschwall oder, wie die Modernen sagen:
Farbenrausch.
Das Deutsche Theater war am Ende der vergangenen Spielzeit im Frühjahr
1905 von Paul Lindau aufgegeben worden und ist seitdem in die Verwaltung und
den Besitz Max Reinhardts übergegangen. In der Leitung des Neuen und
Kleinen Teaters hatte sich Mar Reinhardt durch die Regiekunst, die er in der Ein¬
richtung des „Sommernachtstraumes“ und der „Lustigen Weiber von Windsor“, der
„Kabale und Liebe“ und der „Minna von Barnhelm“ entfaltete, rasch den Ruf eines
ausgezeichneten Regisseurs erworben. Auch die pekuniären Erfolge waren nicht aus¬
geblieben, und alle Theaterfreunde sahen seiner Erwerbung des Deutschen Theaters mit
großen Erwartungen entgegen. Diese Erwartungen sind denn auch, soweit sie sich
auf die Herstellung des Bühnenbildes richteten, erfüllt worden. Reinhardt versteht
es, den Stimmungston eines Dichtwerks fein zu erfassen und in Dekorationen und
Einrichtungen gleichsam lebendig zu ma en. Der Zuschauer wird scheinbar mühelos
in die Illusion versetzt, ob es sich nun um den Wald bei Athen, das niedrige, dürftig
im Zopfstil ausgestattete Zimmer des Stadtmusikanten Miller oder um eine Gasse
von Venedig mit Brücke und Kanalausschnitt handelt. Aber diese einseitige Bevor¬
zugung des dekorativen Elements hat dem bisherigen Repertoire des Deutschen
Theaters enge Grenzen gezogen. Es wurde am Donnerstag, den 19. Oktober mit
Kleists Schauspiel „Das Käthchen von Heilbronn“ eröffnet und brachte dann noch
Shakespeares Lustspiel „Der Kaufmann von Venedig“ mit Frau Agnes Sorma
als Porzia und Herrn Robert Schildkraut als Shylock heraus. Gelegentlich
wurde das Trauerspiel von Richard Beer=Hofmann „Der Graf von Charolais“ vom
Neuen Theater, auf dem es am 23. Dezember 1904 zum erstenmal zur Auf¬
führung gelangt war, herübergenommen. Die ersten Neuigkeiten erschienen am
Freitag, den 12. Januar: zwei einaktige, literarisch unbedeutende Stücke, von
Oskar Wilde, in einer deutschen Übertragung von Max Meyerfeld: „Eine
slorentinische Tragödie" Ehebruch und Mord in Renaissance=Kostüm, mit
dem echt Wildeschen Stich in das Gemeine, daß sich das Weib dem Mörder ihres
Geliebten gierig in die Arme stürzt, weil er der Stärkere ist, und die französische
Posse von Georges Courteline „Der Herr Kommissar“ in deutscher
Übersetzung von Siegfried Trebitsch. Das Mittelstück des Abends bildete eine