19. Der Ruf des Lebens
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Deutsche Rundschau.
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Legende in dramatischer Form in drei Akten von I. M. Synge, deutsch von
Max Meyerfeld: „Der heilige Brunnen“, die wegen ihres poetischen und
tieferen Gehalts eine längere Erwähnung verdient. Die Legende spielt sich auf
idyllischem Hintergrund ab, in einem einsamen Bergdorf im Osten Irlands, in irgend¬
einem früheren Jahrhundert. Ein blindes Bettlerpar, Martin und Mary Doul,
beide von Alter, Not und Wetter arg mitgenommen, sitzen am Wegrand bei der
verfallenen Kirche, in der warmen Sonne. Sie fristen ihr dürftiges Leben durch
fröhliche Bettelei und leichte Arbeit, immer miteinander zankend und doch seelen¬
vergnügt, weil Martin in Mary eine schöne Frau und Mary in Martin einen statt¬
lichen Mann zu besitzen glaubt. Aus Spottlust haben die jungen Burschen und
Mädchen ihnen dies eingeredet. Da zieht ein Heiliger seines Weges, durch Wald
und Fels, durch Feld und Dorf, von einer Kirche zur andern; er trägt in einem
Fläschchen das wunderbare Wasser aus dem heiligen Brunnen, das Blinde sehen
machen kann. Die Dörfler haben sich um das Bettlerpaar und den Heiligen ge¬
sammelt: das Wunder geschieht. Aber mit Grauen starren Mary und Martin ein¬
ander an; sie sind bei sehenden Augen über ihre Häßlichkeit entsetzt, fallen mit groben
Scheltworten einander an und prügeln sich. „Möge der Herr, der euch das Augen¬
licht geschenkt hat, euch etwas Verstand in den Kopf schicken,“ sagt der Heilige,
zwischen sie tretend, „damit ihr nicht auf euer beider Selbst schaut, auf zwei jammer¬
volle Sünder, sondern auf den Glanz des göttlichen Geistes. Den werdet ihr manch¬
mal leuchten sehen durch die vielen Berge und über die jähen Ströme, die sich ins
Meer ergießen. Wenn ihr daran denkt, werdet ihr die Gesichter der Menschen nicht
beachten.“ Aber er hat gut reden, Mary und Martin wollen ihre Garstigkeit nicht
sehen und gehen auseinander. Martin tritt als Arbeiter bei dem Schmied Timmy
ein, der Molly, das schönste Mädchen des Dorfes, zur Braut hat. Allein die Arbeit
ist nichts für den faulen und schwächlichen Martin, und die Schönheit und Munter¬
keit Mollys verlocken ihn zu Liebeserklärungen und Handgreiflichkeiten, die von dem
Mädchen und dem Schmied übelgenommen werden. Er wird von ihnen aus dem
Hause gejagt, und zugleich merkt er, daß seine Sehkraft wieder erlischt. „Das ist
also das letzte, was ich in diesem Leben auf der Welt sehen soll: die Niederträchtig¬
keit eines Weibes und die Bärenkraft eines Mannes,“ sagt er. Auch Mary Doul
erblindet aufs neue, und beide sitzen wieder nebeneinander im Brombeergesträuch auf
den Steinen bei der verfallenen Kirche, zankend und sich gegenseitig verspottend, aber in
ihrer Blindheit sich als schönes Paar, sie als alte Frau mit weißen Haaren und er
als würdigen Greis mit langem weißem Bart träumend und herzensfroh über ihr
Beisammensein, den warmen Sonnenschein und den Frühlingsduft. Als der Heilige
wieder naht und sie nochmals mit dem Wunderwasser begnaden will, schlägt ihm
Martin die Flasche aus der Hand. „Wenn einige unter euch ein Recht haben, zu
arbeiten und zu schwitzen, wie Timmy der Schmied,“ ruft er dem Heiligen zu, „und
andre ein Recht, zu fasten, zu beten und fromme Reden zu führen, wie du —
dann, sollt ich denken, haben wir ein gutes Recht, blind am Weg zu sitzen, dem
sanften Wind zuzuhören, wie er die Blättchen im Frühjahr herumwirbelt, und die
Sonne zu spüren. Und wir peinigen unsre Seele nicht mit dem Anblick von grauen
Tagen und heiligen Männern und schmutzigen Füßen, die auf der Erde herum¬
trampeln.“ Bettelnd wird er mit Mary Doul nach Süden ziehen, wo es wärmer
ist: „Da haben die Menschen vielleicht freundliche Stimmen, und wir wissen nichts
von ihrer Häßlichkeit und ihrer Niedertracht.“ Das Schauspiel in seiner Mischung
von Realismus und Phantastik, von Dorfgeschichte und Märchen bringt eine ganz
eigene Stimmung hervor, liebenswürdig und melancholisch, um freilich von der Bühne
herab zu wirken, ist sie zu dünn und zu fein.
Besonders rührig in der Verführung von Neuigkeiten hat sich wieder die Leitung
des Lessing=Theaters erwiesen. Die Energie und der fest auf ein bestimmtes
Ziel gerichtete Wille und kluge Verstand des Direktors Otto Brahm wissen, wie
früher im Deutschen, so jetzt im Lessing=Theater dem Publikum die Richtung vor¬
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Deutsche Rundschau.
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Legende in dramatischer Form in drei Akten von I. M. Synge, deutsch von
Max Meyerfeld: „Der heilige Brunnen“, die wegen ihres poetischen und
tieferen Gehalts eine längere Erwähnung verdient. Die Legende spielt sich auf
idyllischem Hintergrund ab, in einem einsamen Bergdorf im Osten Irlands, in irgend¬
einem früheren Jahrhundert. Ein blindes Bettlerpar, Martin und Mary Doul,
beide von Alter, Not und Wetter arg mitgenommen, sitzen am Wegrand bei der
verfallenen Kirche, in der warmen Sonne. Sie fristen ihr dürftiges Leben durch
fröhliche Bettelei und leichte Arbeit, immer miteinander zankend und doch seelen¬
vergnügt, weil Martin in Mary eine schöne Frau und Mary in Martin einen statt¬
lichen Mann zu besitzen glaubt. Aus Spottlust haben die jungen Burschen und
Mädchen ihnen dies eingeredet. Da zieht ein Heiliger seines Weges, durch Wald
und Fels, durch Feld und Dorf, von einer Kirche zur andern; er trägt in einem
Fläschchen das wunderbare Wasser aus dem heiligen Brunnen, das Blinde sehen
machen kann. Die Dörfler haben sich um das Bettlerpaar und den Heiligen ge¬
sammelt: das Wunder geschieht. Aber mit Grauen starren Mary und Martin ein¬
ander an; sie sind bei sehenden Augen über ihre Häßlichkeit entsetzt, fallen mit groben
Scheltworten einander an und prügeln sich. „Möge der Herr, der euch das Augen¬
licht geschenkt hat, euch etwas Verstand in den Kopf schicken,“ sagt der Heilige,
zwischen sie tretend, „damit ihr nicht auf euer beider Selbst schaut, auf zwei jammer¬
volle Sünder, sondern auf den Glanz des göttlichen Geistes. Den werdet ihr manch¬
mal leuchten sehen durch die vielen Berge und über die jähen Ströme, die sich ins
Meer ergießen. Wenn ihr daran denkt, werdet ihr die Gesichter der Menschen nicht
beachten.“ Aber er hat gut reden, Mary und Martin wollen ihre Garstigkeit nicht
sehen und gehen auseinander. Martin tritt als Arbeiter bei dem Schmied Timmy
ein, der Molly, das schönste Mädchen des Dorfes, zur Braut hat. Allein die Arbeit
ist nichts für den faulen und schwächlichen Martin, und die Schönheit und Munter¬
keit Mollys verlocken ihn zu Liebeserklärungen und Handgreiflichkeiten, die von dem
Mädchen und dem Schmied übelgenommen werden. Er wird von ihnen aus dem
Hause gejagt, und zugleich merkt er, daß seine Sehkraft wieder erlischt. „Das ist
also das letzte, was ich in diesem Leben auf der Welt sehen soll: die Niederträchtig¬
keit eines Weibes und die Bärenkraft eines Mannes,“ sagt er. Auch Mary Doul
erblindet aufs neue, und beide sitzen wieder nebeneinander im Brombeergesträuch auf
den Steinen bei der verfallenen Kirche, zankend und sich gegenseitig verspottend, aber in
ihrer Blindheit sich als schönes Paar, sie als alte Frau mit weißen Haaren und er
als würdigen Greis mit langem weißem Bart träumend und herzensfroh über ihr
Beisammensein, den warmen Sonnenschein und den Frühlingsduft. Als der Heilige
wieder naht und sie nochmals mit dem Wunderwasser begnaden will, schlägt ihm
Martin die Flasche aus der Hand. „Wenn einige unter euch ein Recht haben, zu
arbeiten und zu schwitzen, wie Timmy der Schmied,“ ruft er dem Heiligen zu, „und
andre ein Recht, zu fasten, zu beten und fromme Reden zu führen, wie du —
dann, sollt ich denken, haben wir ein gutes Recht, blind am Weg zu sitzen, dem
sanften Wind zuzuhören, wie er die Blättchen im Frühjahr herumwirbelt, und die
Sonne zu spüren. Und wir peinigen unsre Seele nicht mit dem Anblick von grauen
Tagen und heiligen Männern und schmutzigen Füßen, die auf der Erde herum¬
trampeln.“ Bettelnd wird er mit Mary Doul nach Süden ziehen, wo es wärmer
ist: „Da haben die Menschen vielleicht freundliche Stimmen, und wir wissen nichts
von ihrer Häßlichkeit und ihrer Niedertracht.“ Das Schauspiel in seiner Mischung
von Realismus und Phantastik, von Dorfgeschichte und Märchen bringt eine ganz
eigene Stimmung hervor, liebenswürdig und melancholisch, um freilich von der Bühne
herab zu wirken, ist sie zu dünn und zu fein.
Besonders rührig in der Verführung von Neuigkeiten hat sich wieder die Leitung
des Lessing=Theaters erwiesen. Die Energie und der fest auf ein bestimmtes
Ziel gerichtete Wille und kluge Verstand des Direktors Otto Brahm wissen, wie
früher im Deutschen, so jetzt im Lessing=Theater dem Publikum die Richtung vor¬