II, Theaterstücke 19, Der Ruf des Lebens. Schauspiel in drei Akten (Vatermörderin), Seite 206

19. Der Ruf des Lebens
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Die Berliner Theater.
zuschreiben und ihm Dichtungen, denen es im Innersten kühl und fremd gegenüber¬
M. Synge, deutsch von
steht, allmählich durch die Konsequenz aufzuzwingen, mit der sie aufgeführt werden,
wegen ihres poetischen und
auch wenn sie den Widerspruch der Kritik und von den Zuschauern mehr Ablehnung
Die Legende spielt sich auf
als Zustimmung erfahren haben. Die Atmosphäre der „Moderne“, die um alle
m Osten Irlands, in irgend¬
Darbietungen des Lessing=Theaters schwebt, und die charaktervolle Persönlichkeit des
Martin und Mary Doul,
Direktors üben einen suggestiven Einfluß auf das Publikum Berlins aus; es
ssitzen am Wegrand bei der
wagt nur im seltensten Falle im Lessing=Theater seine eigene Meinung zu haben.
ihr dürftiges Leben durch
Dies hat den beiden bedeutendsten Neuigkeiten des Theaters, dem Schauspiel: „Stein
zankend und doch seelen¬
unter Steinen“ und der Komödie: „Und Pippa tanzt!“, trotz ihrer kühlen Aufnahme
Mary in Martin einen statt¬
bei der ersten Aufführung, eine lange Reihe von Wiederholungen gesichert. Mit dem
die jungen Burschen und
Schauspiel in vier Akten von Hermann Sudermann „Steinunter Steinen“
seines Weges, durch Wald
eröffnete das Lessing=Theater am Sonnabend, den 7. Oktober 1905, den Reigen
andern; er trägt in einem
seiner Neuigkeiten. „Du bist, verehrte Frau, du selbst sogar nicht fehlerfrei, nicht
runnen, das Blinde sehen
aller Mängel bar. Du schaust mich an — du fragst mich, was dir fehle? Ein
ar und den Heiligen ge¬
Busen und im Busen eine Seele", heißt es in Heines Gedicht „Unvollkommenheit“.
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Nary und Martin ein¬
Auch dem Sudermannschen Drama fehlt der Busen und die Seele, die poetische Fülle
entsetzt, fallen mit groben
und die Individualität des Dichters. Sonst ist es das Meisterstück eines theatralischen
r, der euch das Augen¬
Handwerkers. Das Mitleid für die aus dem Zuchthause oder dem Gefängnisse ent¬
ken,“
sagt der Heilige,
lassenen Sträflinge wird geweckt, die Möglichkeit ihrer Besserung und Wiederkehr in
haut, auf zwei jammer¬
den Kreis der bürgerlichen Gesellschaft durch eine geschickt erfundene Handlung gezeigt
Den werdet ihr manch¬
und den Bestrebungen des Vereins für die Besserung und das Fortkommen der ent¬
Ströme, die sich ins
lassenen Strafgefangenen in der Gestalt des Steinmetzmeisters Zarncke ein Ehren¬
der Menschen nicht
denkmal gesetzt. Auf seinen Werkplatz hat der gutmütige Mann nicht nur einen
Harstigkeit nicht
ehemaligen Dieb als Arbeiter, sondern auch einen Totschläger als Wächter eingestellt.
hmied Timmy
Jakob Biegler hat mit dem Klopfstein, wie ihn die Schuster gebrauchen, in der Not¬
in die Arbeit
wehr den Schuster erschlagen, der ihn mit seiner Frau betroffen hat. Durch die
Munter¬
Unvorsichtigkeit eines Kriminalkommissars wird seine Tat den andern Arbeitern be¬
on dem
kannt die sich nun scheu vor ihm zurückziehen. Er gerät mit dem Steinmetzen
s dem
Göttlingk, dem besten Steinmetzen in der Fabrik, der auf seine stattliche Figur, seine
schöne Gesangsstimme ebenso eitel ist wie auf seine Wanderjahre in Italien, in
Streit, als dieser in der Kantine seine frühere Geliebte Lore roh behandelt und sich
rühmt, daß er das bucklige, heimlich in ihn verliebte Töchterchen des Prinzipals
heiraten könnte, sobald er nur wollte. Vor dem ihn bedrohenden Biegler, der ihn
in
aus der Türe weist, weicht der Prahlhans Göttlingk, trotzdem er kokett mit seinem
italienischen Dolche spielt, feige zurück. Um sich zu rächen, will er hinterrücks auf
den ahnungslosen Biegler, wenn er seine nächtliche Wachrunde im Hofe macht, einen
ige
nur schlecht befestigten Stein, der in Arbeit ist, herabstürzen; aber von Lore gewarnt
und vom Zufall behütet, entgeht Biegier dem sicheren Tode. Der Faden der Hand¬
zu
lung ist kräftig gesponnen und verliert sich niemals ganz in der breiten Schilderung
„und
des Zuständlichen. Die Gegensätze der Figuren, die Motive, aus denen sie handeln,
ihr Zusammenstoß sind immer verständlich und leiden nirgends an Unklarheit und
em
Künstelei; jede Gestalt vertritt eine Seite der Menschennatur; keine spielt sich auf
das Symbolische hinaus. Zarncke und seine Tochter sind mit besonderer Sorgfalt
en
gezeichnet und mit feinen humoristischen und sentimentalen Zügen lebenswahr und
liebenswürdig ausgestaltet. Die Dumpfheit des Gefühls und der Drang des
ner
Unbewußten kommen in Bieglers Haltung und Betragen, in seinem Reden und
Tun zuweilen zu gleich natürlichem wie ergreifendem Ausdruck. Trotz dieser Vorzüge
wird der Zuschauer oder der Leser nicht recht warm bei der Sache, das Stück leidet
an äußerer Plattheit und innerer Trockenheit, weil Sudermann den Vorgängen wie
den Figuren, mit einziger Ausnahme Zarnckes, gleichgültig gegenübersteht: er hat
sie nur mit dem Verstande erfaßt, aber ihnen nichts von seinem Herzblut gegeben.
Das Ganze ist grau in grau getönt, der Steinstaub liegt gleichsam auf allen. Man
wird von dem Eindruck nicht frei, als wäre das Stück nicht um der Kunst, sondern