19. Der Ruf des Lebens
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Deutsche Rundschau.
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um seiner moralischen These wegen geschrieben. Was Sudermann in der allgemeinen
Wertschätzung dadurch als Philanthrop gewinnen mag, verliert er als Poet.
Ganz durchtränkt von Poesie und tiefsinniger Symbolik soll nach der Ansicht
seiner Verehrer Gerhart Hauptmanns Schöpfung „Und Pippa tanzt!“
sein. Tatsache ist, daß weder das Publikum der ersten Vorstellung am Freitag,
den 19. Januar, noch die Keitiker, denen Dichter und Verleger das Buch vorenthalten
hatten — es erschien erst einige Tage nach der Aufführung — sich einen Vers aus
dem „Glashüttenmärchen“ machen und zur Klarheit über die Absichten des Dichters
gelangen konnten. Ich bin Dichtungen gegenüber nie ein Freund von Rätselraten
gewesen und bescheide mich auch in diesem Falle, eine Deutung der phantastischen
Einfälle Gerhart Hauptmanns zu versuchen. Je weniger Tiefsinn oder Erhabenheit
man dahinter vermutet, desto eher erfaßt man vielleicht den wahren Inhalt und
Sinn des Spiels — die Mischung von halb kindischem, halb ausgeklügeltem groteskem
Spaß, der wechselweise auf abenteuerliche Phantastik und die Erregung des Gruselns
ausgeht. Der erste Akt setzt in einer schlesischen Gebirgsschenke, in der Nähe eines
Glashüttenwerks, derb=realistisch ein, im Ton des „Fuhrmann Henschel“ und der
„Rosa Bernd“; die eingestreuten Märchen= und symbolischen Elemente sind dem
Lokalton glücklich angepaßt und vertragen sich mit der Handlung. An einem Tische
trinken und rauchen die Waldarbeiter; an einem andern spielen einige Glasmaler¬
meister mit dem italienischen Glastechniker der Hütte, Tagliazoni, Karten; still für sich
trinkt der Glashüttendirektor seinen Champagner. Es ist um Mitternacht, im
harten Winter; draußen tobt der Schneesturm. Der gelangweilte Direktor fordert
den Italiener, der in der Schenke wohnt, auf, sein Töchterchen Pippa herunterkommen
zu lassen: das Mädchen solle tanzen. Aber Tagliazoni hat taube Ohren; erst als
der Direktor hundert Mark bietet, willigt er ein und ruft nach Pippa. Inzwischen
ist ein alter Glashüttenarbeiter, der nicht mehr mittut, eingetreten: „ein riesiger
Mensch mit langen roten Haaren, roten buschigen Brauen und rotem Bart, von
oben bis unten mit Lumpen bedeckt“ ein Gemisch von Rübezahl und Gorilla; ein
Glas glühend heißen Grogs, das ihm der Direktor geben läßt, gießt er mit einem
Schluck hinunter. „Den sollten Sie mit der Pippa tanzen sehen,“ sagt einer der Wald¬
arbeiter zu dem Direktor, „wenn ihnen der blinde Franz auf der Okarina auf¬
spielt.“ Endlich erscheint Pippa, ein schlankes, schmächtiges, verschüchtertes und ver¬
schlafenes Mädchen, das erst auftaut, als ein halberfrorener junger Han' verksbursche,
Michel Hellriegel, in die Stube tritt, der sich kaum noch aufrecht a# den Füßen
halten kann und verwirrtes Zeug stammelt. Sorgend und helfend macht sie sich um
ihn zu schaffen. Dann tanzt sie ein paar Takte, von dem alten Huhn bald begleitet,
bald verfolgt, bis am Spielertisch ein Tumult ausbricht. Tagliazoni wird von
den Genossen des Falschspiels beschuldigt; die Messer werden gezogen. Er flüchtet aus
der Schenke; alle stürzen ihm nach, die einen, um ihn zu fassen, die andern, um
ihn vor der Wut seiner Verfolger zu schützen. Während er draußen am Waldsaum
erstochen wird, ergreift Huhn die erschreckte und betäubte Pippa und trägt sie von
dannen. Bis zu diesem Ausgang des ersten Aktes hat die Handlung einen natür¬
lichen Zusammenhang und trägt sich in der Sphäre des Menschlichen zu; es ist phan¬
tastische schlesische Waldromantik, in der wir uns auch den bei achtzehn Grad Kälte in
der Winternacht über das Gebirge wandernden Handwerksburschen mit seinem Misch¬
masch von Albernheiten und poetischen Redensarten gefallen lassen. Die drei folgenden
Akte bewegen sich dagegen im Reich der vierten Dimension. Der alte Huhn hat
Pippa nach einer verfallenen Hütte, in der er haust, verschleppt; aber der Handwerks¬
bursche ist ihm nachgegangen und während der Alte, der das Geräusch seiner
Schritte und sein Rufen vernommen hat, die Hütte verläßt, um nachzusehen, wer
sich naht, tritt er ein, wird von Pippa als Retter begrüßt und flieht mit ihr. Weiter
hinauf in das Gebirge, zu einer behaglich eingerichteten Baude, von deren Besitzer,
einem Herrn Wann — „einer mythischen Persönlichkeit", (nach dem Dichter), dessen
Herkunft von Shakespeares Prospero aber gerade so deutlich zu erkennen ist wie
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Deutsche Rundschau.
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um seiner moralischen These wegen geschrieben. Was Sudermann in der allgemeinen
Wertschätzung dadurch als Philanthrop gewinnen mag, verliert er als Poet.
Ganz durchtränkt von Poesie und tiefsinniger Symbolik soll nach der Ansicht
seiner Verehrer Gerhart Hauptmanns Schöpfung „Und Pippa tanzt!“
sein. Tatsache ist, daß weder das Publikum der ersten Vorstellung am Freitag,
den 19. Januar, noch die Keitiker, denen Dichter und Verleger das Buch vorenthalten
hatten — es erschien erst einige Tage nach der Aufführung — sich einen Vers aus
dem „Glashüttenmärchen“ machen und zur Klarheit über die Absichten des Dichters
gelangen konnten. Ich bin Dichtungen gegenüber nie ein Freund von Rätselraten
gewesen und bescheide mich auch in diesem Falle, eine Deutung der phantastischen
Einfälle Gerhart Hauptmanns zu versuchen. Je weniger Tiefsinn oder Erhabenheit
man dahinter vermutet, desto eher erfaßt man vielleicht den wahren Inhalt und
Sinn des Spiels — die Mischung von halb kindischem, halb ausgeklügeltem groteskem
Spaß, der wechselweise auf abenteuerliche Phantastik und die Erregung des Gruselns
ausgeht. Der erste Akt setzt in einer schlesischen Gebirgsschenke, in der Nähe eines
Glashüttenwerks, derb=realistisch ein, im Ton des „Fuhrmann Henschel“ und der
„Rosa Bernd“; die eingestreuten Märchen= und symbolischen Elemente sind dem
Lokalton glücklich angepaßt und vertragen sich mit der Handlung. An einem Tische
trinken und rauchen die Waldarbeiter; an einem andern spielen einige Glasmaler¬
meister mit dem italienischen Glastechniker der Hütte, Tagliazoni, Karten; still für sich
trinkt der Glashüttendirektor seinen Champagner. Es ist um Mitternacht, im
harten Winter; draußen tobt der Schneesturm. Der gelangweilte Direktor fordert
den Italiener, der in der Schenke wohnt, auf, sein Töchterchen Pippa herunterkommen
zu lassen: das Mädchen solle tanzen. Aber Tagliazoni hat taube Ohren; erst als
der Direktor hundert Mark bietet, willigt er ein und ruft nach Pippa. Inzwischen
ist ein alter Glashüttenarbeiter, der nicht mehr mittut, eingetreten: „ein riesiger
Mensch mit langen roten Haaren, roten buschigen Brauen und rotem Bart, von
oben bis unten mit Lumpen bedeckt“ ein Gemisch von Rübezahl und Gorilla; ein
Glas glühend heißen Grogs, das ihm der Direktor geben läßt, gießt er mit einem
Schluck hinunter. „Den sollten Sie mit der Pippa tanzen sehen,“ sagt einer der Wald¬
arbeiter zu dem Direktor, „wenn ihnen der blinde Franz auf der Okarina auf¬
spielt.“ Endlich erscheint Pippa, ein schlankes, schmächtiges, verschüchtertes und ver¬
schlafenes Mädchen, das erst auftaut, als ein halberfrorener junger Han' verksbursche,
Michel Hellriegel, in die Stube tritt, der sich kaum noch aufrecht a# den Füßen
halten kann und verwirrtes Zeug stammelt. Sorgend und helfend macht sie sich um
ihn zu schaffen. Dann tanzt sie ein paar Takte, von dem alten Huhn bald begleitet,
bald verfolgt, bis am Spielertisch ein Tumult ausbricht. Tagliazoni wird von
den Genossen des Falschspiels beschuldigt; die Messer werden gezogen. Er flüchtet aus
der Schenke; alle stürzen ihm nach, die einen, um ihn zu fassen, die andern, um
ihn vor der Wut seiner Verfolger zu schützen. Während er draußen am Waldsaum
erstochen wird, ergreift Huhn die erschreckte und betäubte Pippa und trägt sie von
dannen. Bis zu diesem Ausgang des ersten Aktes hat die Handlung einen natür¬
lichen Zusammenhang und trägt sich in der Sphäre des Menschlichen zu; es ist phan¬
tastische schlesische Waldromantik, in der wir uns auch den bei achtzehn Grad Kälte in
der Winternacht über das Gebirge wandernden Handwerksburschen mit seinem Misch¬
masch von Albernheiten und poetischen Redensarten gefallen lassen. Die drei folgenden
Akte bewegen sich dagegen im Reich der vierten Dimension. Der alte Huhn hat
Pippa nach einer verfallenen Hütte, in der er haust, verschleppt; aber der Handwerks¬
bursche ist ihm nachgegangen und während der Alte, der das Geräusch seiner
Schritte und sein Rufen vernommen hat, die Hütte verläßt, um nachzusehen, wer
sich naht, tritt er ein, wird von Pippa als Retter begrüßt und flieht mit ihr. Weiter
hinauf in das Gebirge, zu einer behaglich eingerichteten Baude, von deren Besitzer,
einem Herrn Wann — „einer mythischen Persönlichkeit", (nach dem Dichter), dessen
Herkunft von Shakespeares Prospero aber gerade so deutlich zu erkennen ist wie
ei unnn