II, Theaterstücke 19, Der Ruf des Lebens. Schauspiel in drei Akten (Vatermörderin), Seite 208

19. Der Ruf des Lebens
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Die Berliner Theater.
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des alten Phönix
die des alten Huhn von dem jungen Caliban — sie gastlich aufgenommen werden.
hKorinth zurück,
Sie sind vor Kälte halbtot und der Handwerksbursche halb schneeblind. Lange währt
akel unmöglich zu:
der Friede nicht, denn das Waldungeheuer ist ihnen nachgeeilt. Es gibt einen
wandern. Kaum
Kampf zwischen Wann und Huhn, in dem Huhn röchelnd zusammenbricht. Die
der Ahnen“ im
beiden gutmütigen Kinder Pippa und Michel geben dem Sterbenden Wein zu trinken,
blieben, als Laios
Pippa fängt an zu tanzen; der alte Glasbläser zerdrückt das Trinkglas — „Pippa
Delphi, um den
durchzuckt es und eine plötzliche Starre befällt sie, Wann fängt sie in seinen Armen
Odipus entspinnt
auf, sie ist tot", und Huhn schreit: „Jumalat!“ und stirbt. Darüber ist der Morgen
den
Herold und
angebrochen. „Wann gibt dem blinden und hilflosen Michel einen Stock in die
ken im Fluß.
Hand, setzt ihm den Hut auf und führt den tastenden, aber leise und glücklich
ahnsinn mich
Kichernden nach der Ausgangstür. Nun setzt Michel die Okarina an den Mund und
es sieht er
spielt eine herzbrechende traurige Weise. Im Flur übernimmt Jonathan, Wanns stummer
vordem nie
Diener, den Blinden, und Wann kommt zurück. Er horcht auf die fern und ferner
es Blutes
verklingenden Melodien der Okarina, nimmt die kleine Gondel vom Tisch, betrachtet sie
dunkelheit
und spricht mit schmerzlicher Entsagung im Ton: „Fahre hin, fahre hin, kleines
Fabel,
Gondelschiffchen!“ Das Ganze vorgetragen in einem wunderlich zerhackten Stil,
hineinzu¬
Verständiges unv Törichtes durcheinander, so daß ich dem Inhalt wie der Form
uder der
dieser Dichtung gegenüber im Zweifel bin, ob der Dichter in dem Irrgarten der
will.
Phantasie wie der blinde Michel umhertastet und sich in poetischen Erfindungen und
Empfindungen nachtwandlerisch ergeht oder sich in klug bewußter Absicht mit dem
verehrlichen Publikum einen Fastnachtsscherz erlaubt.
Ein Stück von Gerhart Hauptmann wagt das gut erzogene Publikum des
Lessing=Theaters eben nur versteckt abzulehnen; weniger Zwang legte es sich Arthur
Schnitzler gegenüber auf. Es hat gleich zwei seiner Stücke durchfallen lassen:
„Zwischenspiel“ eine Komödie in drei Akten, am Sonnabend, den 25. No¬
vember 1905, und „Der Ruf des Lebens“, Schauspiel in drei Akten, am
Sonnabend, den 24. Februar. Die Hartnäckigkeit des Direktors konnte
jedem nur zu wenigen Vorstellungen verhelfen. Arthur Schnitzler kommt aus der
Sphäre seiner ersten Schauspiele, „Liebelei“ und „Freiwild“ in diesen neuen Ar¬
beiten nicht heraus: Ehebruch und freie Liebe, schrankenloser Lebensgenuß und Todes¬
sehnsucht bilden das Gespinst der dünnen Handlungen und das immer gleiche Leitmotiv
der Figuren. Darüber schwebt die Wiener Atmosphäre. Im „Zwischenspiel“ begeht
nur der Mann, der Kapellmeister Amadeus, einen richtigen Ehebruch; die Frau,
die Opernsängerin Cäcilie, bleibt im platonischen Flirt und in der Phantasieschuld
stecken; dann finden sich beide in einer leidenschaftlichen Stunde wieder, um dauernd
auseinanderzugehen. Im „Ruf des Lebens“ vergiftet eine Tochter den schwerkranken
Vater, der sie tyrannisiert und als Sklavin an sein Lager schmiedet, um eine Nacht
mit einem Offizier, vor dem Aufbruch des Regiments zum Kriege, zuzubringen.
Der Offizier ist der Celiebte der Frau des Obersten, und der Oberst erschießt die
Treulose, die er im Zimmer des Offiziers findet. Max und Marie folgen darauf
zwei Stunden lang dem „Ruf des Lebens“; darauf tötet sich Max an der Seite
der toten Irene, und Marie lebt, von dem Gericht unbehelligt, weiter, da der Arzt,
der in sie verliebt ist, die Spuren ihres an dem Vater begangenen Verbrechens
beseitigt hat. Diese Vorgänge und Menschen werden uns in langen, sorgfältig aus¬
gearbeiteten, fein zugespitzten Gesprächen vorgeführt und anatomisch zergliedert; manches
geistvolle Wort, gelegentlich auch ein tiefsinnigerer Gedanke mischt sich ein, aber allem
fehlt das echte dramatische Leben, die frische Bewegung. Das Ausgeklügelte ver¬
drängt zu oft das Natürliche. Die Häßlichkeit der Stoffe, die Schnitzler mit Vor¬
liebe behandelt, die Herausforderung des gesunden schlichten Gefühls, die er bei¬
nahe als Sport betreibt, und der Mangel an sympathischen Figuren bringen im
Verein mit seiner leise gezierten Darstellungsweise in seinen beiden letzten Stücken
eine ermüdende und verdrießliche Wirkung hervor. Wann wird dies an sich so ge¬
fällige Talent aus der Verschrobenheit des Denkens und Empfindens wieder den
Weg zur Wahrheit und Natur zurückfinden?