II, Theaterstücke 19, Der Ruf des Lebens. Schauspiel in drei Akten (Vatermörderin), Seite 265

Vor drei Jahren hat Schnitzlers jüngstes Werk
in Berlin das Licht der Welt erblickt und drei volle
Jahre mußten vergehen, ehe es den Weg in seine Hei¬
mat fand. Es war der Weg zum Leben. In der Fremde
ist es ihm nicht wohl ergangen, die Berliner sahen nur
das Theaterstück und dieses hat ihnen mißfallen, da¬
heim aber wurde es liebevoll empfangen, die Wiener
haben ihren Dichter verstanden. Es ist ein starkes
Stück, ein Stück mit krassen Effekten, und doch keines
von jenen, die mit äußerlicher Pose, mit leerer Thea¬
tralik ihren Knoten schürzen. Nicht an der Oberfläche
liegt der Gedanke, er durchdringt das ganze Stück, jede
einzelne Person. Nicht nur Marie, die von ihrem alten
kranken Vater in selbstsüchtiger Mißgunst in dumpfer
Stube verspert gehalten wird, wohin kein Strahl des
lichten Lebens dringt, wo sie dahinwelken muß, ohne
zu erfahren, was Freude, was Glück ist, nicht nur ihr
gellt der Ruf des Lebens so überlaut, daß sie dem Va¬
ter Gift gibt, um nur einmal in des Geliebten Arme zu
eilen, ehe es zu spät. Auch alle die Anderen lockt der Ruf,
bald laut, bald leise. Die kleine Katharina, die dem
Tode verfallen ist, wie ihre beiden Schwestern, stürzt
sich blindlings in den tollen Strudel, um dann, wenn
das letzte Stündlein kommt, nicht trauern zu müssen,
daß sie nie gelebt. Da sind die blauen Kürassiere, deren
Regiment vor dreißig Jahren durch feige Flucht die
Schlacht verloren hat und die einander nun zugeschwo¬
ren haben, die Schmach ihrer Vorgänger zu tilgen, in
die vorderste Reihe zu treten und allesamt im Kampfe
zu sterben. Die Lust zu leben aber schreit in ihnen auf,
Albrecht eifert gegen das Schicksal, das sie unschuldig
büßen läßt, Max, der seinem Obersten die Frau gestoh¬
len, will nun zur Sühne in den Tod gehen, die Lockun¬
gen der Geliebten können ihn nicht wankend machen,
als aber Marie vor ihn tritt und mit ihr das Leben, da
stürmt er über die Leiche jener Frau mit ihr zu einer
letzten Liebesnacht. Des Obersten Leben aber ist der
Tod. Als er vor dreißig Jahren, ein junger Bursche
noch, in die Reihen der Krieger trat, da wurde eben
Frieden geschlossen, man hatte ihm vor seinem Lebens¬
wege die Thüre zugeschlagen. Dreißig Jahre mußte er
das als Spiel treiben, was ihm heiliger Ernst war.
Nun ist die Gelegenheit da. Ein neuer Krieg ist ausge¬
brochen und durch den Schwur der Offiziere sorgt er
dafür, daß er endlich im ersehnten Waffentanze stehen
werde. Vielleicht auch sucht er den Tod, weil ihn sein
junges Weib betrogen. Ihrem Verlangen nach Leben
macht er vorher durch einen raschen Schuß ein Ende.
Den stillen Forstadjunkten lockt das Leben in stillem
Jagdhaus am dunklen See, er wirft Katharina weg,
weil es in ihm nach Marie noch lauter ruft. Auch der
bejahrte Doktor Schindler fühlt ein Sehnen nach einem
andern Leben, als er bisher gelebt, in den Wechselfällen
des Krieges hofft er es zu finden, er wird Feldarzt. Er
denkt aber nicht nur an sich, er zeigt dem Forstadjunk¬
ten, zeigt Marie den Weg zum Leben, und als diese ent¬
setzt zurückfährt, denn sie hat gesehen. wie Frauen be¬
trügen, locken, ehrlich sind und sterben, wie Männer
zittern, spielen, höhnen und töten“, da weist er sie einen
andern Weg, den lichten Weg des friedlichen Lebens.
„Und wer weiß, ob Ihnen nicht später —viel später ein¬
mal aus einem Tag wie der heutige der Ruf des Lebens
viel reiner und tiefer in die Seele klingen wird, als an
jenem andern, da Sie Dinge erlebt haben, die so furcht¬
bare und glühende Namen tragen wie Mord und Liebe.“
Selbst der alte kranke Vater klammert sich mit ver¬
zweifelter Kraft an das Leben. Er war es, der damals
die Flucht der blauen Kürassiere verschuldet hat, und
nun lacht er höhnisch bei dem Gedanken, daß er allein
noch lebt, während so viele junge Leute um seiner
Schuld willen in den Tod gehen müßen. Und so schlin¬
gen sich all die Fäden, die dunklen und die lichten, zu
einem wunderbar feinen Gewebe, das nur äußerlich mit
ein paar bunten Blumen grell bemalt ist. Das Volks¬
theater hatte an das Schauspiel alle Mühe gewandt
und seine besten Kräfte ins Treffen geführt. Sollte man
die Darstellung gebührend würdigen, müßte man eben¬
so viel schreiben, wie über das Schauspiel selbst. Und
dazu gebricht es leider an Raum.
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nstagnlese.
vom:
Theater.
(Deutsches Volkstheater.) „Der Ruf des Lebens“ von
Artur Schnitzler. Das erste literarische Bühnenereignis dieser
Saison. Das Schauspiel des begabten Wiener Dichters ist keineswegs
einwandfrei. Seine technische Konstruktion — als Einheit genommen —
ist sozusagen verkehrt aufgezäumt. Die Katastrophe liegt im ersten
Akt, die eigentliche Begründung und Auseinanderlegung der Kräfte,
die das tragische Schicksal der Figuren bedingen, findet sich erst im
dritten Akt, der gleichzeitig als philosophischer Abgesang, als sym¬
bolischer Spruchsprecher der Moral von der Nichtigkeit alles Lebens
und der Nutzlosigkeit des Widerstandes gegen seine treibenden Instinkte
„hran dus Mronlags Wäluh
Ant. Aber mur dieser vote Moralsaden gibt dem Schauplele, biel 2
Einheit. Im Grunde sind es drei tragische Einzelfälle, bei denen es m
keineswegs der Entschuldigung symbolischer Absicht bedarf, um ihre
starke Wirkung zu erklären. Sie sind im besten Sinne tragisch, einfach
menschlich und auch in der technischen Form einwandfrei; wenigstens §
ch
soweit die beiden ersten Akte in Betracht kommen. Es sind
Tragödien von Weiblichkeiten, deren vehemente Sexualtriebe teilssn
durch Familienkonvention, teils durch eine unbefriedigende Ehe aufssu
höchste gereizt, die Hindernisse blind überwinden und dabei zugrund¬
gehen. Körperlich oder bloß seelisch. Diese drei verschiedenen Weiblich= i.
keiten werden von den Damen Hannemann, Müller und
Marberg getragen; es gibt einen Dreiklang von ganz außer¬
ordentlicher Wirkung; die herbe Selbstsicherheit der ersten, die liebliche
Bedenkenlosigkeit und Verlorenheit der anderen und die starke, derbe
Sinnlichkeit der dritten. Die Träger der männlichen Rollen kommen
auch beim Dichter weit schlechter weg. Sie sind beinahe durchaus
Poseure einer konventionellen Geste. Weder Männchen noch Männer;
bis auf den alten Moser, diesen Typus egoistischen Lebensdurstes,
dem Herr Homma noch immer einen Schimmer von Liebenswürdigkeit
verleiht. Winzig freilich, aber doch stark genug, um die vater¬
mörderische Tochter ins Unrecht zu setzen. Sehr gut Herr Weisse,
dessen Oberst eine gewisse edle Verhaltenheit zeigt; eine innerliche
Erregtheit, die beredter ist als Worte und doch noch nicht stark genug,
um die Brutalität des vorbereiteten Gattenmordes zu mildern. Die
Herren Kramer, Klitsch, Kutschera, Edthofer und Frau
Schweighofer haben durchwegs Lückenbüßerrollen, wenn aucht
zwei davon dem unerbittlichen Schiedsspruche des Dichters zum Opfer
fallen; überhaupt geht Schnitzlex mit dem Leben der Figuren gar
souveräu um; man würde dem milden Dichter, der sich wiederhol¬
dem Publikum zeigen mußte, so viel grausame Mordlust gar nich
zumuten.
(Volksoner##