II, Theaterstücke 19, Der Ruf des Lebens. Schauspiel in drei Akten (Vatermörderin), Seite 268

19. DerRuf des Lebens
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Artur Schnitzler. Erste Aufführung am 11. Dezember 1909.
Schnitzlers Keiaktiges Schauspiel „Der Ruf
des das Samstag unter starkem äußeren
Erfolg zum erstennkal in Wien über die Bühne ging, ist:
technisch ein schlechtes Stück — ein recht schlechtes Stück.
Unwahrscheinlich gekünstelt in den Motivierungen,
willkürlich, marionettenhaft in der Szenenführung, locker
im Aufbau. Ganz ungleichmäßig in der Wahl der
Mittel: zarte, feine Piuselstriche neben dickaufgetragenen,
schreiendgrellen Farbenklexen.
Oder man gibt zu, daß hier ein neuer Inhalt die
herkömmliche Form zersprengt und die alte Dramaturgie
eben daran Schiffbruch erleidet. Und der neue Inhalt
wäre, daß der Dramatiker nicht eigentlich ein Menschen¬
schicksal zeichnet, sondern das dämonische Walten einer
unsichtbaren Macht aufzeigen will, die über die
Menschen kommt, der die Menschen nur Mittel sind.
Und diese urgewaltige Kraft, das ist das Leben, das
lockende, rufende Leben.
Alle haben den Ruf des Lebens einmal gehört. Der
alte Rittmeister Moser damals in der Schlacht und da
war er aus Angst vor dem Tod geflohen und hatte sein
ganzes Regiment, die blauen Kürassiere, mit fortgerissen.
Dreißig Jahre sind seither vergangen. Wieder ist Krieg
im Land und die blauen Kürassiere haben geschworen,
die Schmach von damals zu tilgen: alle wollen sie den
Heldentod suchen. So ließ das lockende Leben den alten
Moser schuldig werden am Tod so vieler. Aber es straft
ihn auch. Seine eigene Tochter Marie, welcher der alte
Mann all ihre Jugend vergällt, da er ihr das Leben
„draußen um die Eck“ nicht vergönnt, vergiftet ihn
und von seiner Leiche weg eilt sie dem Ruf des Lebens
nach, zu ihrem Max, der Offizier bei den blauen
Kürassieren ist. Das zweite Opfer des rufenden Lebens.
Und Max? Die Frau seines Oberst liebt ihn leiden¬
schaftlich, sträflich und ruft ihn zum Leben. Was soll
ihm und ihr sein Tod mit den Kameraden draußen ?#
Er weist sie fort — da klirrt das Fenster — der Oberst
hat sie überrascht, ein Pistolenschuß und das Weib sinkt
tot zu Boden. „Herr Leutnant, nehmen Sie den Mord
auf sich!“ Und Max erlebt in Mariens Armen eine
letzte Nacht voll Liebe und Leben und, als der Morgen
graut, da greift auch er zur Pistole,
Dann Katharina, Mariens Base, neunzehn Jahre ast,
schwindsüchtig. Sie weiß es, mit zweiundzwanzig ist sie
tot wie ihre Schwestern, drum will sie leben, leben!
Und sie wirft sich jenem Leben in die Arme, das auch
Laster heißt. Nur einmal kehrt sie noch heim, verstört,
verwirrt, „nur auf ein Skündchen“ um zu sterben, Nocht
zwei Menschen gehen durch das Stück, zwei stille
Menschen: ein Forstadjunkt, der zuerst Katharina liebte,
dann Maria und der jetzt wartet — ohne jeden Groll,
nur Verstehen und Mitleid im Herzen und, dann der
Hausarzt Mosers, der einmal Marien zugerufen, sie soll!
das Leben nicht versäumen, denn „zu spät ist böser als
niemals“ und der dann mit mildem Trost die Vater¬
mörderin wieder aufrichtet. Meuschsich vielleicht die an¬
sprechendste Figur, technisch wohl die schwächste: ein
verkappter Raisonneur.
Das ist der Inhalt. Nebeneinanderlaufende Hand¬
lungen, nur leise rerschlungen. Ein Totentanz zu dem
das Leben aufspielt. Viele Fragen hat hier der Moralist
zu stellen, auf die ihm der Dichter keine Antwort gibt.
Mord und Liebe, Schuld und Sühne, Verbrechen und
Reue — Worte sagt er, Worte für diejenigen, die am
einzelnen haften. Wer aber die Zusammenhänge begreift?
Regie und Darstellung im Deutschen Volkstheater
ließen sich alle jene Sorgfalt angelegen sein, der das
Werk bedarf, um eine Bühnenwirkung hervorzubringen.
Fl. Hannemann (Marie) hat gewiß das größte
Verd enst darum Dann ist Frl. Müller (Katharina)
zu nennen, im ersten Akt gespenstig, verführerisch wie
das Leben selbst, rührend in der Opheliaszene im letzten.
Weiters Frau Thaller als Katharinas Mutter, die
Gebärden und Töne fand, die aus Herz griffen. Fräulein
Marberg (Frau Oberst) zeigte wieder ihre ganze
Künstlerschaft. Würdig reihten sich an die Herren
Homma (alter Moser), eine einwandfreie Leistung,
Edthofer (Forstadjunkt), Kramer (Max) und
Kutschera (Arzt). Herr Weisse war der schwierigen
Rolle des Balladenoberst nicht ganz gerecht geworden.
Die Aufführung hatte, wie schon erwähnt, einen
starken äußeren Erfolg, ob einen anhaltenden Bühnen¬
K—m,
erfolg, mag die Zukunft lehren.