II, Theaterstücke 19, Der Ruf des Lebens. Schauspiel in drei Akten (Vatermörderin), Seite 274

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19. Der Rufs Lebens
alte Rittmeister Moser, der die Flucht des Regimentes
verschuldet hat. Der sieche Greis erfährt, daß sein
Regiment, um die alte Schmach abzuwaschen, in den
Tod zieht. Er aber freut sich, daß er all die jungen
Leute überlebt, er, der neunundsiebzig Jahre ailte
Mann. Denn er hört noch immer den Ruf des
Lebens. Seine Tochter Marie hingegen hat an der
Seite ihres kranken, bösartigen Vaters den Ruf des
Lebens überhört. Ein junger, schöner Leutnant, mit
dem sie eine schwüle Nacht durchtanzte, hat vergebens
auf sie gewartet und ist schließlich den Sirenenkünften
der Frau Oberst erlegen. Für ihn ist der Schwur,
in den Tod zu gehen, nur eine Befreiung aus einer
fürchterlichen Lage. Und nun reiten die blauen
Kürassiere unter den Fenstern der Marie vorjber.
Da vernimmt auch sie den Ruf des Lebens. Und als
sie von ihrer Cousine Katharina hört, daß ihr Herz¬
liebster unter den Abziehenden nicht war, daß en erst:
morgen früh mit seiner Schu rcon dem sicheren Tod
entgegenreitet, gibt es für sie kein Bleiben mehr bei
Telephon 12.801
dem alten Mann, aus dessen Mund sie noch dazu ver¬
nommen, daß er derjenige ist, der den Schwur der
Di.

blauen Kürassiere verschuldete. Um sich von dem
„UBSEREn
Alten zu befreien, der sie zu sich in seinem Zimmer
I. öst. behördl. konz. Unternehmen für Zeitungs-Ausschnitte
einsperrt, gießt sie das Fläschchen Gift, das ihr der
Arzt anvertraut hatte, ganz in das Wasserglas aus.
Wien, I. Konkordiaplatz 4
Der Alte trinkt und stirbt. Sie aber eilt vim der
Vertretungen
Leiche weg zu ihrem Liebsten, muß in dessen Woh¬
in Berlin, Budapest, Chicago, Christiania, Genf, Kopen¬
nung, von einem Vorhang gedeckt, die Liebestragödie
hagen, London, Madrid, Mailand, Minneapolis, New-Vork,
des jungen Offiziers miterleben, muß sehen, wie der
Paris Rom, San Francisko, Stockholm, St. Petersburg
(Quellenangabe ohne Gewähr)
Oberst sein junges Weib niederknallt und ihrem Herz¬
liebsten den Selbstmord aufzwingt. Da stürzt sie in
Ausschnitt aus:
seine Arme, mit ihm an der Leiche der jungen Frau
Salzburger 1
hlatt.
vorüber, hinaus in die Nacht, dem stürmischen Ruf
vom: 15 12. 1909
des Lebens gehorchend. Der dritte Akt, dramatisch
der schwächste, aber lyrisch der stimmungsvollste, be¬
Der Ruf des us.
steht nur mehr aus Reflexionen. Er konnte dem Er¬
folg der vorausgegangenen Akte keinen Eintrag mehr
(Schauspiel in drei Aufzügen von Arkur Schnitzler.)
tun. Darsteller und Dichter wurden unzähligemale
Man muß es der Direktion des Deutschen Volks¬
gerufen. Es steht zu hoffen, daß „der Ruf des Lebens“
theaters hoch anrechnen, daß sie ab und zu das Werk
auch in der Provinz erklingt.
g.st.
eines deutschen Dichters auf ihre Bühne stellt. Denn
die übrigen bürgerlichen Privatbühnen Wiens pflegen
ja fast nur mehr französische oder slawische Kunst.
Warum auch nicht? Die Deutschen, ohne Unterschied
der Parteizugehörigkeit, finden das in der Ordnung.
Man hat ja jetzt so vor kurzem eine Woche hindurch
Schiller gefeiert und wird ihm in fünfzig Jahren ganz
bestimmt wiederum die gleichen Ehren erweisen.
Inzwischen aber will man sich in der kurzen Spanne
Zeit bis zur nächsten Jubelfeier des deutschen Dichter¬
heros auch ein bißchen an französischen Zoten ver¬
gnügen. Und derartige Vorstellungen stärken das
Nationalbewußtsein im eigenen Volke! Dann gibt es
immerhin ein Burgtheater, das der Tradition gemäß
deutsche Kunst in den Vordergrund stellt. Und es gibt
außerdem noch eine freie Volksbühne, eine Schöpfung
der sozialdemokratischen Partei, die zum Unterschied
von den bürgerlichen Bühnen in fast ausschließlicher
Weise hervorragende Werke germanischer Dichter zur
Aufführung bringt und somit einem bestehenden
nationalen Kulturbedürfnis Rechnung trägt.
Man muß also dem Deutschen Volkstheater wirk¬
lich dankbar sein, daß es uns aus eigener Initiative
ein Werk des feinsten Wiener Dichters in einer
geradezu meisuerhaften Darstellung geboten hat. Der
Ruf des Lebens, dieses eigenartigste Werk Schnitz¬
lers, hat seltsamer Weise in Berlin versagt. Das
Berliner Publikum, das den heimatlosen deutschöster¬
reichischen Dramatikern auf seinen Bühnen jenes
Gastrecht gewährt, das die Deutschen in Oesterreich
in überschwänglichem Maße den französischen und
slawischen Autoren einräumt, hat ausnahmsweise den